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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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vorsichtig entrollte. Es war Samstagabend, und die Sonne versank in dem nun schon gewohnten staubigen Dunst, der in diesem endlosen Sommer an die Stelle der Dämmerung trat. Im sattgoldenen Abendlicht wirkte die Wiese vorm Witch Wood wie ausgeblichen, wie ein mattes, verwaschenes Blond.
    »Hast du vielleicht ein Bier?«, fragte ich. Plötzlich brauchte ich dringend einen Katertrunk.
    »Da musst du in den Laden gehen … Der schon geschlossen ist«, ergänzte sie mit einem Blick auf die Uhr. Sie schaute mich prüfend an. »Du siehst ja ziemlich mitgenommen aus, muss ich sagen. Hast du dich betrunken?«
    »Die Party ging ein bisschen länger, als ich dachte.«
    »Ich glaube, ich hab irgendwo eine alte Flasche Whisky.«
    »Au ja«, sagte ich und lebte schon ein wenig auf. »Vielleicht einen kleinen Whisky mit Wasser. Mit viel Wasser«, präzisierte ich, als würde das mein Verlangen harmloser erscheinen lassen.
    Also brachte mir meine Mutter ein großes Glas blassgoldenen Whisky mit Wasser, und während ich daran nippte, wurde mir fast augenblicklich besser – die Kopfschmerzen blieben, aber ich fühlte mich weniger gebeutelt und gereizt und nahm mir vor, für den Rest des Tages besonders nett zu Jochen zu sein. Und beim Trinken dachte ich, welch verblüffende Wendungen das Leben doch bot – es konnte die Dinge so arrangieren, dass ich jetzt hier in einem Cottage-Garten von Oxfordshire saß, an einem heißen Sommerabend, während mein Sohn einen Igel ärgerte und meine Mutter mir Whisky brachte – diese Frau, meine Mutter, die ich offensichtlich kaum gekannt hatte, die in Russland geboren war, als britische Agentin 1941 in New Mexico einen Mann umgebracht hatte, zum Flüchtling wurde und mir, eine Generation später, schließlich ihre Geschichte erzählte. Das zeigte einem doch … Mein Kopf war zu durcheinander, um den großen Zusammenhang zu erfassen, in den sich die Geschichte der Eva Delektorskaja einfügte; ich konnte höchstens die Einzelteile aufzählen. Einerseits faszinierte mich dieser Beweis, dass man seine Mitmenschen überhaupt nicht kannte, dass ihnen praktisch alles zuzutrauen war, und zugleich fühlte ich mich irgendwie niedergeschlagen angesichts der Lügen, mit denen ich aufgewachsen war und bis jetzt gelebt hatte. Es war, als müsste ich meine Mutter ganz von neuem kennenlernen, alles, was wir miteinander erlebt hatten, neu verarbeiten, damit leben, dass ihre wahre Biographie die meine in einem ganz anderen und möglicherweise beunruhigenderen Licht erscheinen ließ. Ich beschloss hier und jetzt, die Sache ein paar Tage ruhen zu lassen, bevor ich mich an eine Analyse wagte. Mein eigenes Leben war schon aufregend genug: Ich sollte mich erst mal um mich selbst kümmern, sagte ich mir. Meine Mutter war offensichtlich aus härterem Holz geschnitzt. Ich wollte darüber nachdenken, wenn ich munterer war, geistig wiederhergestellt, und – Dr. Timothy Thoms ein paar entscheidende Fragen stellen.
    Ich musterte meine Mutter von der Seite. Sie blätterte in ihrer Illustrierten, aber ihre Augen waren in die Ferne gerichtet – sie schaute angestrengt, ängstlich über die Wiese zu den Bäumen von Witch Wood hinüber.
    »Alles in Ordnung, Sal?«, fragte ich.
    »Weißt du, vorgestern wurde eine alte Frau – eine ältere Dame – in Chipping Norton umgebracht.«
    »Umgebracht? Wie denn?«
    »Sie saß im Rollstuhl, war beim Einkaufen. Dreiundsechzig Jahre alt. Von einem Auto überfahren, das auf den Bürgersteig geraten war.«
    »Wie schrecklich … Ein Betrunkener? Ein Raser?«
    »Das wissen wir nicht.« Sie warf die Illustrierte ins Gras. »Fahrerflucht. Sie haben ihn noch nicht gefasst.«
    »Kann er nicht anhand des Autos identifiziert werden?«
    »Das war gestohlen.«
    »Verstehe … Aber was hat das mit dir zu tun?«
    Sie sah mich an. »Bringt dich das nicht auf seltsame Gedanken? Ich saß erst neulich im Rollstuhl. Und ich kaufe oft in Chipping Norton ein.«
    Jetzt musste ich wirklich lachen. »Ich bitte dich!«, sagte ich.
    Ihr Blick war starr und nicht sehr freundlich. »Du begreifst immer noch nicht?«, sagte sie. »Nach allem, was ich dir erzählt habe? Du weißt offenbar nicht, wozu die fähig sind.«
    Ich trank meinen Whisky aus – auf diesen unübersichtlichen Irrweg würde ich ihr nicht folgen, das war schon mal sicher.
    »Dann wollen wir mal los«, sagte ich diplomatisch. »Danke, dass du dich um den Jungen gekümmert hast. Hat er sich benommen?«
    »Tadellos. Ein guter Gefährte.«
    Ich rief

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