Ruhelos
bedeckte sie mit Watte und Pflaster und fuhr mit dem Taxi zu einem Polizeirevier in Rotherhithe.
»Was können wir für Sie tun, Miss?«, fragte der Diensthabende. Eva schaute wirr und verhielt sich desorientiert, als litte sie unter Gehirnerschütterung, einem Schock. »Das Krankenhaus sagte, ich soll mich hier melden«, behauptete sie. »Ich heiße Sally Fairchild, ich habe im Carlisle House gewohnt und bin ausgebombt.«
Am Ende des Tages besaß sie einen provisorischen Ausweis und ein Rationsbuch mit einem Wochenvorrat Lebensmittelmarken. Nachbarn hätten sie aufgenommen, sagte sie und gab eine nahe gelegene Adresse an. Man trug ihr auf, sich binnen einer Woche im zuständigen Amt des Innenministeriums in Whitehall zu melden, damit alles geregelt werden könne. Die Polizisten waren voller Mitgefühl. Eva weinte ein wenig, man wollte sie mit dem Auto zu ihrer neuen Adresse bringen. Nein, sie wolle noch zu Freunden, sagte Eva, und ein paar Verwundete im Krankenhaus besuchen, trotzdem vielen Dank.
So wurde aus Eva Delektorskaja eine Sally Fairchild, und das war endlich ein Name, den Romer nicht kannte. Die Kette war durchbrochen, obwohl sie noch nicht sicher war, ob ihre neue Identität von Dauer sein würde. Sie stellte sich vor, dass er sich insgeheim über ihre Fähigkeiten freute – habe ich sie nicht gut ausgebildet? Aber stets würde ihn diese eine Frage verfolgen: Wo finde ich Eva Delektorskaja?
Das vergaß sie nie, und ihr war klar, dass mehr geschehen musste, damit sie sich auch nur halbwegs sicher fühlen konnte – also ging sie, solange das Geld reichte, gegen Abend in ein besseres Restaurant oder eine Bar und bestellte sich einen Drink. Für die nächsten Tage war sie am sichersten, wenn sie im Hotel wohnte und gar nichts tat. Aber sobald sie sich irgendeine Arbeit suchte, wurde sie umgehend von den Mühlen der Bürokratie erfasst und registriert. Sie besuchte also das Café Royale und den Chelsea Arts Club, die Bar des Savoy, des Dorchester, des White Tower. Viele akzeptable Männer luden sie zu Drinks und Rendezvous ein, und manche versuchten erfolglos, sie zu küssen. Sie lernte einen polnischen Kampfflieger im Bierkeller am Leicester Square kennen, mit dem sie sich zwei weitere Male traf, bevor sie sich gegen ihn entschied. Was sie suchte, war ein ganz bestimmter Mann – sie hatte keine Ahnung, wer das war, aber sie war überzeugt, dass sie ihn auf Anhieb erkennen würde, wenn sie ihm begegnete.
Etwa zehn Tage nachdem sie sich in Sally Fairchild verwandelt hatte, besuchte sie das Heart of Oak in der Mount Street von Mayfair. Es war ein Pub, aber es war mit Teppichen ausgelegt, an den Wänden hingen Stiche mit Sportmotiven, und im Kamin brannte immer ein echtes Feuer. Sie bestellte Gin Orange, setzte sich an einen Tisch, zündete eine Zigarette an und nahm sich das Kreuzworträtsel der Times vor. Wie gewöhnlich hielt sich Militär im Lokal auf – durchgängig Offiziere –, und einer von ihnen lud sie zu einem Drink ein. Da sie keinen britischen Offizier wollte, sagte sie, sie erwarte einen Gentleman, worauf er sich entfernte. Nach einer Stunde etwa – sie wollte schon gehen –, setzten sich drei junge Männer in dunklen Anzügen an den Nachbartisch. Sie waren bester Laune, und sehr bald nahm Eva den irischen Akzent wahr. Sie stand auf, um sich einen Drink zu holen, und ließ die Zeitung fallen. Einer der Männer, rundes Gesicht und bleistiftschmaler Schnurrbart, hob sie auf und gab sie ihr zurück. Ihre Blicke begegneten sich.
»Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«, sagte er. »Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich bin im Begriff zu gehen«, erwiderte Eva, doch sie ließ sich schließlich überreden, am Tisch der Männer Platz zu nehmen. Sie sei mit einem Gentleman verabredet, sagte sie, doch der habe sich bereits vierzig Minuten verspätet.
»Oh, das ist kein Gentleman«, rief der Mann mit dem Bärtchen und machte ein ernstes Gesicht. »Das nenne ich einen englischen Schurken.«
Alle lachten, und Eva fiel auf, dass der Mann, der ihr gegenübersaß – blond, kräftig, sommersprossig, in lockerer, lässiger Haltung –, zwar auch über den Witz lächelte, aber mehr nach innen, als würde ihn etwas anderes an der Äußerung belustigen als die vordergründige Schelte.
Sie fand heraus, dass alle drei Anwälte waren, die für die irische Botschaft arbeiteten, im Konsularbüro Clarges Street. Als der Blonde mit der nächsten Runde dran war
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