Ruhelos
Destabilisierungsmanövern. Wäre die Agentin Salbei tot aufgefunden worden, mit einer gefälschten deutschen Landkarte von Mexiko in der Tasche, wäre die ganze Südamerika-Aktion der BSC als der Schwindel aufgeflogen, der er tatsächlich war, und die isolationistischen Kräfte in den USA, die gegen den Kriegseintritt votierten, hätten gewaltigen Auftrieb bekommen.
»Also sollte Salbei der rauchende Colt werden«, sagte ich. »Die BSC enttarnt – das perfide Albion mal wieder.«
»Ja. Und Mr A ging mit völlig sauberen Händen daraus hervor. Es war eine brillante, äußerst clevere Operation. Mr A gab Salbei keinerlei Instruktionen über den anfänglichen Kurierauftrag hinaus – alles, was Salbei auf dem Weg nach New Mexico und in Las Cruces unternahm, war improvisiert, völlig ungeplant und aus der jeweiligen Situation erwachsen. Man glaubte offenbar, darauf bauen zu können, dass Salbei seine eigene Liquidierung bewerkstelligte. Gnadenlos, bedenkenlos.«
Ihre eigene Liquidierung, korrigierte ich im Stillen. Aber sie war schlauer als alle anderen.
»Jedenfalls spielte das dann keine Rolle mehr«, sagte Thoms mit sarkastischem Lächeln. »Die Japaner retteten die Lage mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor – und genauso Hitler mit seiner einseitigen Kriegserklärung an die USA ein paar Tage später –, eine Sache, die anscheinend immer vergessen wird. Das änderte alles – und für immer. Und es sorgte dafür, dass Salbeis Kompromittierung, hätte sie denn stattgefunden, keinerlei Auswirkungen mehr gehabt hätte. Die USA waren endlich in den Krieg eingetreten. Mission erfüllt.«
Thoms wies noch auf einige andere Punkte hin. Zum Beispiel schrieb er dem Mord an Nikitsch eine große Bedeutung zu. Informationen, die das FBI von Nikitsch erhalten hatte, schienen Morris Devereux im November 1941 zu Ohren gekommen zu sein, und sie verwiesen auf eine tiefgreifende sowjetische Infiltration der britischen Sicherheits- und Geheimdienste. (»Heute wissen wir, wie weit sie ging«, fügte Thoms hinzu, »Burgess, Maclean, Philby – und wer weiß, wer von der Bande noch da draußen herumschleicht.«) Devereux wäre niemals darauf gekommen, dass Mr A ein »Gespenst« war, hätten nicht Salbeis Erlebnisse in Las Cruces ernstliche Zweifel und die Frage nach den Schuldigen provoziert. Devereux war ganz offensichtlich im Begriff, Mr A zu enttarnen, als er ermordet wurde. Sein Tod – sein »Selbstmord« – besaß alle Merkmale eines NKWD-Mords, was wiederum die These stützte, dass Mr A kein deutscher, sondern ein russischer Agent war.
»Ich vermute, bei Mr X handelt es sich um Alastair Denniston, den Chef der Government Code and Cypher School«, sagte Thoms, als er mich zu meinem Auto brachte. »Er hätte die Machtbefugnisse besessen, seine eigenen ›Irregulären‹ auf den Weg zu bringen. Und überlegen Sie sich mal Folgendes, Ruth: Wenn Mr A, was ja wohl hochwahrscheinlich ist, als NKWD-Agent im GCHQ tätig war, dann hat er während des Krieges mehr für die Russen getan als alle Cambridge-Spione zusammengenommen. Unglaublich.«
»Wieso?«
»Nun, das ist der eigentliche Ertrag der Informationen, die Sie mir gegeben haben. Wenn das publik gemacht würde, wäre das ein Schock. Ein Riesenskandal.«
Ich sagte nichts mehr. Er fragte mich, ob ich irgendwann mal mit ihm essen gehen würde, und ich vertröstete ihn, ich würde mich melden – mein Leben sei im Moment ein wenig hektisch. Ich bedankte mich sehr bei ihm, fuhr nach Middle Ashton und holte Jochen auf dem Weg dorthin ab.
Meine Mutter schien auf der letzten Seite angekommen zu sein. Sie las vor: »Damit soll jedoch die Geschichte des Agenten Sage nicht abgewertet werden. Das Material, das Sie mir zugänglich machten, bietet nicht nur faszinierende Einblicke in die gewaltigen Ausmaße der BSC-Aktivitäten in den USA, sondern auch in die Kleinarbeit der BSC. All dies ist eine fesselnde Materie, wie ich wohl nicht betonen muss, denn die Aktivitäten der BSC wurden in all den Jahren fest unter Verschluss gehalten. Bis heute hat kein Außenstehender auch nur die geringste Vorstellung vom Ausmaß der britischen Geheimdienstoperationen in den USA vor Pearl Harbor. Sie können sich vorstellen, wie diese Neuigkeiten von unseren Freunden jenseits des Atlantiks aufgenommen würden. ›Besondere Beziehungen‹ herzustellen reichte nicht aus – wir brauchten die British Security Coordination, um noch den entscheidenden Schritt weiterzugehen.«
Sie warf das Manuskript ins Gras
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