Ruhelos
und dingfest zu machen. Aber es war noch etwas anderes, was sie nach so vielen Jahren in Aktion versetzt hatte, wie ich jetzt erkannte. Irgendein Gefühl der Gefährdung hatte ihren Entschluss befördert, die Angelegenheit zu Ende zu bringen. Vielleicht war es Verfolgungswahn – eingebildete Beobachter im Wald, fremde Autos, die nachts durchs Dorf fuhren –, vielleicht aber auch schiere Ermüdung. Vielleicht hatte meine Mutter es satt, ewig auf der Hut zu sein, immer in Erwartung des Klopfens an der Tür. Ich dachte an ihre Drohungen, als ich noch klein war: »Eines Tages wird jemand kommen und mich wegholen.« Und ich begriff, dass sie wirklich mit diesem Gedanken gelebt hatte – seit ihrer Flucht nach Kanada am Jahresende 1941. Das war eine lange Zeit – eine viel zu lange. Sie war des Wachens und Wartens müde und wollte ein Ende herbeiführen. Und so setzte die erfinderische Eva Delektorskaja ein kleines Drama in Szene, das ihre Tochter – ihre notwendige Verbündete – in den Plot gegen Romer einbezog. Ich konnte ihr das nicht verdenken und versuchte mir vorzustellen, welchen Preis sie in all den Jahren hatte zahlen müssen. Ich schaute zu ihr hinüber, auf ihr feines Profil, während wir durch die Nacht heimwärts fuhren. Woran denkst du, Eva Delektorskaja? Welche Intrigen brütest du gerade aus? Wirst du jemals entspannt leben können, wirst du jemals wirklich zur Ruhe kommen? Hast du nun endlich deinen Frieden? Sie hatte mich fast auf die gleiche Art benutzt, wie Romer sie zu benutzen versucht hatte. Ich begriff, dass mich meine Mutter diesen ganzen Sommer lang sorgfältig geleitet, geführt hatte wie einen Spion, wie einen …
»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte sie so unvermittelt, dass ich hochschreckte.
»Was?«
»Er weiß, dass du meine Tochter bist. Er kennt deinen Namen.«
»Na und?«, sagte ich. »Er weiß auch, dass du ihn kalt erwischt hast. Alles wird ans Licht kommen. Er kann dir kein Haar krümmen. Du hast es ihm ja gesagt – du hast ihn aufgefordert, den Hörer abzunehmen.«
Sie dachte nach.
»Vielleicht hast du recht. Vielleicht reicht das aus. Vielleicht macht er keine Anrufe. Aber er könnte etwas Schriftliches hinterlassen.«
»Wie meinst du das: ›etwas Schriftliches hinterlassen‹? Wo soll er etwas Schriftliches hinterlassen?« Ich konnte ihr nicht folgen.
»Es wäre sicherer, etwas Schriftliches zu hinterlassen, verstehst du? Weil …« Sie unterbrach sich und dachte beim Fahren angestrengt nach, vornübergebeugt, als ob sie in dieser Haltung das Auto schneller ans Ziel bringen konnte.
»Weil was?«
»Weil er bis morgen früh tot sein wird.«
»Tot? Warum sollte er denn bis morgen früh tot sein?«
Sie warf mir einen Blick zu, einen ungeduldigen, der besagte: Du hast es immer noch nicht kapiert, oder? Dein Kopf funktioniert nicht so wie unserer. Nachsichtig erklärte sie mir: »Romer wird sich heute Nacht umbringen. Mit einer Spritze, einer Tablette. Das hat er vor Jahren schon festgelegt. Es wird aussehen wie ein Herzinfarkt oder tödlicher Schlaganfall – wie etwas Natürliches jedenfalls.« Sie entspannte die Finger am Lenkrad. »Romer ist tot. Ich brauchte ihn nicht mit dieser Kanone zu erschießen. In dem Moment, wo er mich sah, wusste er, dass er erledigt war. Er wusste, dass er sein Leben verwirkt hatte.«
14
Ein waschechter Gentleman
Ich stand mit Jochen und meiner Mutter vorm Friedhofstor von St. James, Piccadilly, und hielt meinen neuen rotbraunen Schirm in die Höhe. Es war ein kalter Septembermorgen mit Nieselregen in der Luft – dichte robbengraue Wolken zogen stetig über uns hin, während wir verfolgten, wie die Würdenträger, Gäste, Freunde und Angehörigen zur Trauerfeier für Lord Mansfield of Hampton Cleeve eintrafen.
»Ist das der Außenminister?«, fragte ich, als ein dunkelhaariger Mann im blauen Mantel von einer chauffeurbetriebenen Limousine herbeigeeilt kam.
»Das scheint ja ein ziemliches Aufgebot zu werden«, sagte meine Mutter, als ginge es um eine Hochzeit und nicht um eine Beerdigung; zwischen dem Kirchenportal und dem gusseisernen Staketenzaun des kleinen, eingesunkenen Vorhofs bildete sich eine ungeordnete Schlange. Eine Schlange von Menschen, die es nicht gewöhnt sind, Schlange zu stehen, dachte ich.
»Was wollen wir hier?«, fragte Jochen. »Das ist ein bisschen langweilig, hier draußen auf dem Gehsteig zu stehen.«
»Das ist eine Trauerfeier für einen Mann, der vor ein paar Wochen gestorben ist. Jemand, den Granny
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