Ruhelos
leichte Schulter nehmen konnte: Sobald der Eindruck entstand, dass ihnen das Training gefiel oder gar Spaß machte, wurden Law und seine Ausbilderkollegen mürrisch und abweisend. Aber gewisse Besonderheiten ihrer Ausbildung gaben ihr Rätsel auf. Wenn die anderen, die mit ihr »studierten«, zum Flugplatz Turnhouse bei Edinburgh fuhren, um Fallschirmspringen zu lernen, durfte sie nicht mit.
»Warum nicht?«, fragte sie.
»Mr Romer sagt, das ist nicht nötig.«
Aber offenbar legte Mr Romer Wert auf andere Fähigkeiten. Zweimal in der Woche fuhr Eva allein mit dem Zug nach Edinburgh, wo sie bei einer schüchternen Frau in Barnton Sprechunterricht erhielt, bis langsam, aber sicher alle Spuren ihres russischen Akzents getilgt waren. Jetzt sprach sie wie die Schauspielerinnen in englischen Filmen, ein steifes, abgehacktes Englisch mit seltsamen Vokalen: Statt »man« sagte sie »men«, statt »hat« sagte sie »het«, ihre Konsonanten waren scharf und präzise, ihre R ein wenig rollend. Sie lernte sprechen wie eine junge Mittel-Standsengländerin mit Privatschulbildung. Niemand fragte nach ihrem Französisch oder ihrem Russisch.
Dieselbe Spezialbehandlung wurde ihr zuteil, als die anderen zu einem dreitägigen Selbstverteidigungskurs nach Perth geschickt wurden. »Mr Romer sagt, das ist nicht nötig«, hieß es, als sie sich wunderte, weil sie keinen Marschbefehl erhielt. Dann kam ein seltsamer Mensch nach Lyne, der ihr Einzelunterricht erteilte. Er hieß Mr Dimarco, war ein kleiner, sehr gepflegter Herr mit scharf getrimmtem und pomadisiertem Schnurrbart, und er zeigte ihr seinen Vorrat an Gedächtnistricks – früher hatte er auf Jahrmärkten gearbeitet, wie er sagte. Eva lernte, Zahlen mit Farben zu verbinden, und bald zeigte sich, dass sie sich mühelos bis zu zwanzig Sequenzen fünfstelliger Zahlen merken konnte. Sie spielten komplizierte Varianten von Gedächtnisübungen mit über hundert Gegenständen, die auf einem langen Tisch versammelt waren – und nach zwei Tagen war sie zu ihrer eigenen Überraschung in der Lage, sich mehr als achtzig dieser Gegenstände zu merken. Man zeigte ihr einen Film und unterzog sie danach einer ausführlichen Befragung: Hatte der dritte Mann von links in der Kneipe einen Hut auf oder nicht? Wie lautete das Kennzeichen des Fluchtautos? Trug die Frau an der Hotelrezeption Ohrringe? Wie viele Stufen führten zur Haustür des Schurken? … Sie begriff, dass man ihr beibrachte, Augen und Verstand in völlig neuer Weise zu gebrauchen, so dass sie sich mit ihren Methoden des Beobachtens und Erinnerns gänzlich von der Masse der Menschen unterschied. Und anhand dieser neuen Fähigkeiten sollte sie die Welt mit einer Präzision und Systematik beobachten und analysieren, die nichts mehr mit gewöhnlicher Neugier zu tun hatte. Alles, aber auch wirklich alles sollte zum potenziellen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit werden. Niemand sonst bekam diese Ausbildung bei Mr Dimarco, nur Eva. Auch das sei eine von Mr Romers Spezialanforderungen, gab man ihr zu verstehen.
Als es schließlich dunkel war am Fluss, so dunkel, wie eine schottische Sommernacht nur sein konnte, knöpfte sie ihren Regenmantel zu und faltete das Umhängetuch zum Kissen. Das Licht des Halbmonds hatte die Farben des Tages in die Monochromie der Nacht überführt und verwandelte den Fluss mit den knorrigen Bäumen in eine Szenerie von geisterhafter Schönheit.
Nur zwei andere »Gäste« waren schon so lange in Lyne wie sie: ein junger, hagerer Pole, genannt Jerzy, und eine Frau Mitte vierzig, Mrs Diana Terme. Es gab nie mehr als acht oder zehn Gäste zur gleichen Zeit, auch das Personal wechselte regelmäßig. Sergeant Law schien zum festen Inventar zu gehören, aber selbst er wurde für zwei Wochen von einem wortkargen Waliser namens Evans abgelöst. Die Gäste bekamen täglich drei Mahlzeiten in der Kantine des Haupthauses, von der man einen weiten Blick über das Tal und den Fluss hatte, und bedient wurden sie von jungen Rekruten, die kaum ein Wort sagten. Untergebracht waren die Gäste im neueren Flügel; Frauen in der einen Etage, Männer in der anderen, jeder hatte sein eigenes Zimmer. Es gab sogar einen Clubraum mit Radio, Teebereiter, Zeitungen und ein paar Illustrierten – aber Eva hielt sich selten dort auf. Ihre Tage waren ausgefüllt: Das Kommen und Gehen und der niemals artikulierte, aber allen bekannte Grund ihres Hierseins sorgten dafür, dass gesellige Kontakte riskant erschienen und irgendwie nicht
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