Ruhelos
diesen historischen Fakt, diese Selbstaufopferung, die bewusste Preisgabe moralischer Maßstäbe nicht mit der schlanken, gutaussehenden Frau in Verbindung bringen, die eben noch in meinem Wohnzimmer auf und ab gegangen war. Was empfand eine Frau, wenn sie im Dienste ihres Landes mit einem Fremden schlief? Vielleicht war es ganz einfach nur eine rationale Entscheidung gewesen. Unterschied sie sich von einem Soldaten, der für sein Land tötete? Oder, genauer gesagt, seine engsten Verbündeten belog – im Interesse seines Landes? Vielleicht war ich zu jung, vielleicht hätte ich den Zweiten Weltkrieg miterleben müssen? So richtig verstehen würde ich das jedenfalls nie.
Jochen und Avril kamen hüpfend und springend aus dem Schulgebäude gerannt, zu viert liefen wir durch die Banbury Road.
»Wir haben eine Hitzewelle«, erklärte Jochen.
»Eine tropische Hitzewelle. Du sagst es.«
»Ist das wie eine Welle im Meer? Eine Welle aus Hitze, die über uns schwappt?«, fragte er und machte eine entsprechende Handbewegung.
»Oder die Sonne winkt mit der Hand und wedelt uns die ganze Hitze zu«, schlug ich vor.
»Das ist einfach nur blöd, Mummy«, sagte er.
Ich entschuldigte mich, und wir liefen heimwärts. Mit Veronica verabredete ich ein gemeinsames Abendessen für den Samstag.
Wieder zu Hause, wollte ich gerade Tee für Jochen aufsetzen, als das Telefon klingelte.
»Ms Gilmartin?«
»Am Apparat.«
»Hier Anna Orloggi.« Es war dieselbe Frau – ihren Nachnamen sprach sie mit leichtem italienischem Akzent aus, als gehörte sie zu einer der ältesten englischen Familien.
»Ja«, sagte ich zerstreut, »hallo.«
»Lord Mansfield empfängt Sie am Freitag um achtzehn Uhr in seinem Club. Haben Sie Stift und Papier?«
Ich notierte: Brydges’ hieß sein Club – nicht Brydges’ Club, einfach Brydges’, dazu eine Adresse am St. James’ Park.
»Diesen Freitag, achtzehn Uhr«, wiederholte Anna Orloggi.
»Ich werde kommen.«
Ich war sofort euphorisiert, weil er angebissen hatte, aber dazu kam auch gleich eine quälende Nervosität, denn jetzt war mir klar, dass ich es war, die sich mit Lucas Romer treffen würde. Plötzlich war alles ganz real, war er in meine Lebenswirklichkeit eingetreten, und bei diesem Gedanken verwandelte sich die Euphorie in ein Gefühl der Übelkeit, spürte ich die Trockenheit in meinem Mund. Ich war in einen Gemütszustand hineingeraten, gegen den ich mich immun geglaubt hatte – ich hatte ein ganz klein wenig Angst.
»Was ist denn los mit dir, Mummy?«, fragte Jochen.
»Alles in Ordnung, Liebster. Nur ein Anfall von Zahnschmerzen.«
Ich rief meine Mutter an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. »Es hat geklappt. Genau, wie du gesagt hast.«
»Gut«, erwiderte sie mit völlig ruhiger Stimme. »Ich wusste es. Ich erkläre dir genau, was du zu sagen und zu tun hast.«
Als ich auflegte, klopfte es an die Wohnungstür, die zur Praxis hinabführte. Ich öffnete, und da stand Dr. Scott, strahlend, als hätte er durch die Decke gehört, wie ich »Anfall von Zahnschmerzen« sagte, um sofort Hand anzulegen. Aber hinter ihm sah ich einen schwitzenden jungen Mann mit kurzen Haaren und einem billigen dunklen Anzug.
»Hallo, hallo, Ruth Gilmartin«, sagte Mr Scott. »Große Aufregung. Dieser junge Mann will Sie sprechen. Er ist von der Polizei – ein Detektiv, stellen Sie sich vor! Wir sehen uns später, vielleicht …«
Ich führte den Detektiv ins Wohnzimmer. Er setzte sich, fragte, ob er – bei dieser Hitze – das Jackett ausziehen dürfe, und stellte sich, während er es sorgsam über eine Stuhllehne hängte, als Detective Constable Frobisher vor, was mich aus irgendeinem paradoxen Grund beruhigte, und setzte sich wieder.
»Nur ein paar Fragen«, sagte er, in seinem Notizbuch blätternd. »Wir haben eine Anfrage aus London. Dort interessiert man sich für den Verbleib einer jungen Frau namens … Ilse Bunzl.« Er sprach den Namen sorgfältig aus. »Angeblich hat sie aus London hier bei Ihnen angerufen. Ist das korrekt?«
Ich verzog keine Miene. Wenn sie solche Informationen besaßen, hatten sie, so kombinierte ich, irgendwo ein Telefon angezapft.
»Nein«, sagte ich. »Ich habe keinen Anruf bekommen. Wie war der Name noch mal?«
»Ilse Bunzl.« Er buchstabierte den Vornamen.
»Ich unterrichte ausländische Studenten, müssen Sie wissen. Die gehen bei mir ein und aus.«
Detective Frobisher notierte »unterrichtet ausländische Studenten«, stellte weitere Fragen (Könnte einer von
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