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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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meinen Schülern diese Frau kennen? Gibt es viele Deutsche unter den Schülern von Oxford English Plus?) und entschuldigte sich schließlich, meine Zeit beansprucht zu haben. Ich brachte ihn zur Hintertür, um Mr Scotts Eifer nicht unnötig zu schüren. Aber gelogen hatte ich nicht – alles, was ich zu dem Polizisten sagte, entsprach der Wahrheit.
    Auf einmal fragte ich mich, wo Jochen geblieben war, dann hörte ich seine Stimme – leise, fast unhörbar – aus dem Wohnzimmer. Er musste hinter uns hineingeschlüpft sein, als ich den Polizisten hinausbrachte. Ich blieb stehen und blickte durch den Spalt der Türangel, da sah ich ihn auf dem Sofa sitzen, ein offenes Buch auf dem Schoß. Aber er las nicht, er redete mit sich selbst und machte Handbewegungen, als würde er imaginäre Bohnenhäufchen sortieren oder ein unsichtbares Brettspiel spielen.
    Mich packte natürlich sofort ein spontanes, fast unerträgliches Gefühl der Liebe für ihn, umso mehr, als es auf einem Akt des Voyeurismus beruhte und er nicht ahnte, dass ich ihn beobachtete – seine Unbefangenheit war so pur wie nur möglich. Er legte das Buch beiseite und ging, weiter vor sich hin murmelnd, ans Fenster, doch nun machte er merkwürdige Gesten – er zeigte auf irgendwelche Punkte im Zimmer und auch nach draußen. Was hatte das zu bedeuten? Was ging da in ihm vor? »Seine eigentliche und interessanteste Existenz führt der Mensch unter dem Mantel des Geheimnisses« – welcher Schriftsteller hatte das gesagt? Ich kannte Jochen besser als irgendeinen Menschen auf der Welt, und doch entwickelte dieses unschuldige Kind schon – in gewisser Weise – das dunkle, versteckte Eigenleben eines Halbwüchsigen, eines Erwachsenen, umgab er sich bereits mit einem Schleier des Geheimnisses, der auch seine nächsten Vertrauten im Ungewissen ließ. Ich musste nur an meine Mutter denken: Bei ihr war es kein Schleier, sondern eher schon eine dicke Wolldecke. Und aus ihrer Sicht kann sie bestimmt dasselbe behaupten, dachte ich und hüstelte, bevor ich ins Wohnzimmer trat.
    »Was war das für ein Mann?«, fragte Jochen.
    »Ein Kriminalbeamter.«
    »Ein Kriminalbeamter! Was wollte er?«
    »Er sagte, er sucht nach einem gefährlichen Bankräuber namens Jochen Gilmartin, und fragte, ob ich jemanden kenne, der so heißt.«
    »Mummy!« Er lachte und stieß den Finger mehrmals in meine Richtung, was er immer tat, wenn er sich sehr freute oder sehr ärgerte. Er freute sich; ich machte mir Sorgen.
    Ich ging zurück in den Flur, nahm den Hörer ab und rief Bobbie York an.

Die Geschichte der Eva Delektorskaja
New York 1941
    Gegen Mitte November bekam Eva Delektorskaja einen Anruf von Lucas Romer persönlich. Sie saß im Büro von Transoceanic und arbeitete an den endlosen Verästelungen ihrer Seemanöver-Story – jede südamerikanische Zeitung hatte sie in der einen oder anderen Form aufgegriffen –, als er sie zu einem Treffen auf den Stufen des Metropolitan Museum bat. Also nahm sie die U-Bahn zur 86th Street und wechselte auf der Fifth Avenue von den großen Apartmenthäusern hinüber zur anderen Seite, um dem Central Park näher zu sein. Es war ein kalter und windiger Morgen, sie zog die Mütze über die Ohren und knotete den Schal fester um den Hals. Der Bürgersteig war mit Herbstblättern übersät – sie musste sich endlich an die amerikanischen Ausdrücke gewöhnen: sidewalk statt pavement und fall statt autumn. An den Straßenecken standen die Kastanienverkäufer; der süßlich-salzige Rauch von den Röstöfen kitzelte sie in der Nase, während sie gemächlich schlendernd auf das große Museumsgebäude zulief.
    Romer wartete schon auf der Treppe, ohne Hut und in einen langen dunkelgrauen Mantel gehüllt, den sie noch nicht kannte. Unwillkürlich spürte sie ein Glücksgefühl in sich aufsteigen, sie musste an die zwei Tage auf Long Island denken. Im November 1941 in New York zu sein und den Geliebten auf den Stufen zum Metropolitan Museum zu treffen, schien die normalste und natürlichste Sache der Welt – als hätte sich ihr ganzes Leben auf diesen einen besonderen Moment zubewegt. Aber die Tatsachen, die sich anderswo auftürmten – die Kriegsberichte, die sie am Morgen in den Zeitungen gelesen hatte, die Deutschen im Vormarsch auf Moskau –, machten ihr deutlich, dass diese Begegnung zwischen ihr und Romer im höchsten Maße absurd und unwirklich war. Mag sein, dass wir Geliebte sind, sagte sie sich, aber wir sind auch Spione, daher ist für uns alles

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