Ruhelos
Lippen. Noch einmal presste er ihre Hand, dann ließ er sie los.
»Bon voyage«, sagte er. »Sei wachsam.«
»Ich bin immer wachsam, wie du weißt.«
Er stand auf und ging weg, den Weg hinab. Eva schaute ihm nach und sagte zu sich selbst: Ich befehle dir, dich noch einmal umzudrehen, ich bestehe darauf, dass du dich noch einmal zu mir umdrehst. Und tatsächlich, er tat es. Er drehte sich um, lief ein paar Schritte rückwärts und hob die Hand zu seiner vertrauten Geste – ein halbes Winken, ein halbes Grüßen.
Am nächsten Morgen fuhr Eva zur Penn Station und kaufte ein Ticket nach Albuquerque, New Mexico.
9
Don Carlos
»Die Leute werden denken, wir haben eine Affäre«, sagte Bobbie York. »All diese spontanen Besuche. Ich beklage mich nicht. Ich bin sehr diskret.«
»Danke, Bobbie«, sagte ich, ohne auf seinen Scherz einzugehen. »Sie sind schließlich mein Betreuer. Da ist es ganz normal, wenn ich Sie um Rat bitte.«
»Aber ja doch. Natürlich ist es das. Aber was soll ich einem raten, der schon so gut beraten ist wie Sie?«
Ich hatte Bérangères Stunde verschoben, damit ich ihn gleich am Morgen aufsuchen konnte. Ich wollte verhindern, dass er mich wieder mit Whisky abfüllte.
»Ich muss mit jemandem reden, der mir etwas über die britischen Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg sagen kann. MI5, MI6 und so weiter. SIS, COE, BSC. Sie wissen schon.«
»Tjaaaa«, sagte Bobbie. »Nicht gerade meine starke Seite. Ich spüre, dass Lord Mansfield angebissen hat.«
Sosehr Bobbie versuchte, den liebenswerten Trottel zu geben: Er war kein Dummkopf.
»Stimmt«, sagte ich. »Ich treffe ihn am Freitag, in seinem Club. Ich hab nur das Gefühl, dass ich mich noch ein bisschen kundig machen muss.«
»Eijeijei, das wird ein Drama. Sie müssen mir alles erzählen, Ruth. Ich bestehe darauf. Das scheint ein wahrer Reißer zu werden.«
»Schon versprochen«, sagte ich. »Ich tappe selbst ein bisschen im Dunkeln, um ehrlich zu sein. Sobald ich etwas weiß, werden Sie’s erfahren.«
Bobbie ging an seinen Schreibtisch und wühlte in einem Papierstapel. »Einer der wenigen Vorteile von Oxford ist, dass man einen Experten für beinahe jedes Thema vor der Nase sitzen hat. Von mittelalterlichen Astrolabien bis hin zu Teilchenbeschleunigern – wir können mit fast allem dienen. Ah, hier ist der Mann. Fellow im All Souls College. Timothy Thoms heißt er.«
»Timothy Thoms?«
»Ja. Thoms mit Th. Ich weiß, er klingt wie eine Kinderbuchgestalt oder eine Dickens-Figur, aber er ist garantiert hundertmal klüger als ich. Genauso wie Sie natürlich. Er wird sich also mit Ihnen vertragen wie der sprichwörtliche Hund mit der Katze. Ah, da ist er: Dr. T. C. L. Thoms. Bin ihm ein paarmal begegnet. Anständiger Kerl. Ich mache Ihnen einen Termin.« Er griff zum Telefon.
Bobbie sorgte dafür, dass ich Dr. Thoms zwei Tage später aufsuchen konnte. Ich ließ Jochen bei Veronica und Avril und ging ins All Souls, wo man mich zum Treppenaufgang von Dr. Thoms wies. Der Nachmittag war von einer drückenden Schwüle, die Sonne schien von einem schwefligen Dunstschleier umgeben. Ihr merkwürdig bedrohliches gelbes Licht verstärkte das Gelb der Ziegelmauern, und einen Moment lang glaubte ich – hoffte ich –, dass es ein Gewitter geben würde. Der Rasen im Innenhof hatte die Farbe von Wüstensand.
Als ich an Dr. Thoms’ Tür klopfte, öffnete mir ein kräftiger junger Mann mit Jeans und T-Shirt – ich schätzte ihn auf Ende zwanzig –, jedenfalls hatte er lockiges braunes Haar, das sich bis auf seine Schultern wellte, dazu einen fast schon peinlich korrekt getrimmten Bart, der eigentlich nur aus Ecken und Kanten bestand.
»Ruth Gilmartin«, sagte ich. »Ich suche Dr. Thoms.«
»Sie haben ihn schon gefunden. Kommen Sie herein.« Er hatte einen starken Yorkshire- oder Lancashire-Akzent – die konnte ich nie auseinanderhalten.
Wir setzten uns in sein Arbeitszimmer; sein Angebot einer Tasse Tee oder Kaffee lehnte ich ab. Mir fiel auf, dass ein Monitor auf seinem Schreibtisch stand, der aussah wie ein Fernseher. Er hatte – das wusste ich von Bobbie – über Admiral Canaris und die Infiltration seiner Abwehr durch die MI5 im Zweiten Weltkrieg promoviert. Jetzt schrieb er für »gewaltige Geldsummen« an einem »gewaltigen Buch«, das die Geschichte des britischen Geheimdiensts von 1909 bis zur Gegenwart behandelte. »Ich glaube, er ist Ihr Mann«, hatte Bobbie gesagt, nicht ohne Stolz auf seine guten Verbindungen.
Thoms
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