Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
wohlgefügten und auf Erfolg und sozialen Aufstieg ausgerichteten Welt war kein Platz für Unvorhergesehenes. Die Söhne wurden Ärzte oder Anwälte wie ihre Väter. Die Mädchen gingen jeden Morgen unter der behelmten Athena vorbei, die am Eingang des Lyceums und der Studienanstalt für höhere Töchter auf dem Platz zwischen zwei Korinthersäulen wachte. Danach übten sie Schuberts Klaviersonaten und lernten Gänse zu rupfen, sie würden einmal eine gute Partie machen und für ein paar robuste Stammhalter sorgen. All dies unter dem zustimmenden Blick von Goethe und Schiller, die in Feinleder gebunden auf dem Bücherregal standen. Alles so selbstverständlich. Alles tief bürgerlich. Eine Welt, von der niemand sich hätte ausmalen können, dass sie eines Tages für immer verschwinden würde. «Wenn wir einmal nicht mehr sind, ist nichts mehr», sagte Miriam Blumenreich am Telefon.
Ich musste mich beeilen.
Günther Jauch bei den Jeckes
Eine Sturzgeburt in der Nummer 3 . Am 3 . September 1931 , zwei Monate vor dem Termin. Im Schlafzimmer der Parterrewohnung links, zwei Etagen unter der von Lilli und Heinrich Ernsthaft, plumpste Marianne Gerda Fiegel, wie Miriam Blumenreich am Tag ihrer Geburt hieß, aus dem Bauch ihrer Mutter. Um den jüdischen Geburtshelfer zu rufen, blieb keine Zeit. Man holte die katholische Hebamme aus der Nummer 20 . Vier, fünf gewaltige Wehen, und auf dem weißen Laken im Bett ihrer Eltern lag eine blutverschleimte amphibische Kugel. Zweieinhalb eilig in eine Baumwolldecke gewickelte Kilo.
Marianne Gerda hatte sich aus dem engen Beutel herauskatapultiert, wo sie nicht mehr wohin wusste mit ihrer ungeheuren Energie. Unter Einsatz der Ellbogen schob sie ihren Zwillingsbruder, der neben ihr in diesem Wasserparadies trieb, zur Seite. Sie wollte die Welt als Erste betreten. Rolf Günter Simon hatte einige Minuten später seinen verzagten Auftritt. Ein schmächtiges Häufchen, das dem grellen Licht nicht lange standhielt und nach drei Tagen starb. Marianne Gerda verbrachte vier Monate im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße im Brutkasten und wurde jeden Tag mit der abgezapften Milch ihrer Mutter gefüttert, bevor sie in ihrem von einer weißbehaubten Säuglingsschwester geschobenen Kinderwagen meine Straße entdeckte.
Achtzig Jahre später erwartet mich Miriam Blumenreich auf dem Gehsteig vor ihrem Haus in Kiryat Bialik nordöstlich von Haifa, in der Nähe der Ölraffinerien. Auf ihrem dunkelblauen Kleid eine weiße Windengirlande, die ihren idyllischen Namen zu illustrieren scheint. Ich brauche sie nur zu begrüßen, und schon tauchen üppige Gärten, majestätische Bouquets, riesige Frühsommerwiesen vor meinen Augen auf.
Miriam Blumenreich, auf ihren Stock gestützt, hat Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Es klingt wie eine Entschuldigung: «Ich hab 63 Kilo gewogen. Dann hab ich Hormone bekommen. Von einem Tag auf den andern bin ich aufgegangen wie Hefeteig. Einfach immer weiter aufgegangen.» Miriam Blumenreich mimt ihre Metamorphose. Sie wölbt die Brust. Zeichnet mit den Armen um ihre Hüfte herum eine Blütenkrone, die immer umfangreicher wird. Tut, als würde sie gleich platzen. Und bricht in Lachen aus: «Ich kann kaum gehen. Auch der Professor Hoffmann konnte nichts machen, um mich aufzuhalten. Er hat zu mir gesagt: ‹Das wird nicht mehr, Frau Blumenreich. Gucken Sie einfach nie wieder in den Spiegel!›» Saubermachen darf sie auch nicht. «Wenn Sie im Rollstuhl sitzen wollen, dann putzen Sie Ihr Haus!», hat er gesagt.
Mit der letzten Rate der Zwangsarbeiterrestitution ihres Mannes Wolfgang hat sich Miriam Blumenreich einen elektrischen Miniwagen gekauft. Sie nennt ihn ihren dreirädrigen Rolls-Royce. Am Steuer dieses lautlosen Geräts durchpflügt sie nun in Höchstgeschwindigkeit ihr Viertel.
Das alles hat mir Miriam Blumenreich in einigen wenigen leutseligen Minuten auf dem Gehsteig erzählt. Sie fasst mich mütterlich um die Taille und schiebt mich zu ihrem von Zypressen und Bougainvilleen umgebenen Haus, in dem sich ihr Vater, Dr. Dr. Fiegel, Anwalt und Notar aus Berlin, am 17 . November 1936 mit seiner ganzen Familie niedergelassen hat. «Alle sind hier zu Hause gestorben!», frohlockt sie. Ihr Mann Wolfgang, ihre Großmutter mütterlicherseits, Else Schiftan, ihre Großmutter väterlicherseits, Tilde, ihre Mutter Klara und deren Vater Herbert, der auf seinem Totenbett in einem Krankenhaus in Berlin, wohin er in den fünfziger Jahren
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