Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
zurückgekehrt ist, um als Restitutionsanwalt zu arbeiten, verfügte, dass sein Körper in
seine Heimat
, nach Israel, überführt werden soll. Miriam Blumenreich ist stolz wie eine Hirtin, der es gelungen ist, ihre kleine Herde vor den Wölfen zu schützen. Sie sind nicht im Lager gestorben. Sie sind nicht auf dem Weg ins Exil gestorben, verängstigt und verstört. Sie sind in ihrem Bett gestorben, umsorgt von den Ihren. Und sie alle liegen auf dem Friedhof von Kiryat Bialik begraben. Ganz nah bei ihrem Haus.
Miriam Blumenreich deutet mit dem Kinn auf die Treppe zum ersten Stock. Da oben wohnt ihre ältere Schwester Alissa/Ilse. Als ihre Töchter heirateten, teilten die Fiegels ihr Haus in zwei Hälften. Unten: Miriam. Oben: Alissa. Miriam Blumenreich führt mich in ihrem dämmrigen Wohnzimmer an einen niedrigen Tisch. Die Läden sind geschlossen wegen der Hitze. Sie reguliert den Ventilator, zieht die Vorhänge zu, bereitet Obst, Kekse und Tee vor, wühlt in den Couchkissen nach ihrem Handy. Und wird ungeduldig: «Ein Haus ist kein Teig, es kann nichts verloren gehen! Das sagte meine Mutter immer!» Ich packe meine Berliner Mitbringsel aus, um die sie mich gebeten hat. Zwölf Tütchen Käsekuchen-Mix und zwölf Tütchen Sahnesteif. Ich habe bei der Kontrolle am Flughafen eine Heidenangst ausgestanden. Werden mir die Zollbeamten meine Geschichte von einer alten Berliner Nachbarin abnehmen oder eher ein trickreiches Versteck für eine Lieferung Kokain oder Sprengstoff vermuten? Dr. Oetker ist Miriam Blumenreichs Marcel Proust. Käsekuchen, mit schön steifer Schlagsahne überzogen …
Sie legt ihre ganze Kindheit auf ihren Kaffeekränzchentisch, wenn sie mit ihren deutschen Freundinnen aus Prag freitags und samstags Bridge spielt, weil es da nicht so lange Fernsehen gibt wegen des Sabbats. Miriam Blumenreichs Bridgepartnerinnen sind 90 , 91 und 96 Jahre alt. «Die eine hat Darmverschluss. Die andere hört nicht. Aber sie spielen prima. Und vor allem: Sie sprechen nur Deutsch.»
In der Nummer 3 meiner Straße befand sich die Wohnung ihrer Großeltern: Simon Schiftan, reisender Handelskaufmann für Stoffe, und seine Frau Else. Sie ziehen 1905 ein, im selben Monat wie Heinrich Ernsthaft. Die Schiftans und die Ernsthafts unterhalten eine freundliche Beziehung. Ihre Tochter, Klara Schiftan, Miriam Blumenreichs Mutter, war die Kindergärtnerin der Straße. Ihr Kindergarten befand sich in der Parterrewohnung ihrer Eltern. Wie zierlich und hübsch es ist auf dem Foto, das Fräulein Schiftan. Mit sanftmütigem Auge wacht es über die nach Größe an der Fassade aufgestellten Kleinen. Sie umfassen einander an den Schultern, das Gesicht dem Objektiv zugewandt. Die ganze Straße war traurig, als das Fräulein Schiftan 1929 den Dr. Dr. Herbert Rudolf Chaim Fiegel heiratete. Nun würde sie ihre eigenen Kinder haben. Nun würde sie die Arbeit aufgeben.
Das Foto von der standesamtlichen Trauung ist auf den Stufen des Schöneberger Rathauses aufgenommen. Fräulein Schiftan, Pelzmantel, kokettes Damenhütchen und weiße Strümpfe, reicht dem Dr. Dr. Fiegel, langer schwarzer einreihiger Paletot und Zylinder, den Arm. Das Paar ist von seinen Zeugen umrahmt. Links Walter, Klaras Bruder. Rechts Arnold, Herberts Bruder und sein Ebenbild. Dieselben Ohren, derselbe kleine Schnurrbart, dieselbe runde Brille. Walter und Arnold sind beide Ärzte. Das junge Paar zieht bei den Eltern der Braut in der Nummer 3 ein. «Wenn du willst, dass ich dir von meinen Kunden erzähle, dann wirst du meine Bürovorsteherin», schlägt Herbert Fiegel seiner Frau vor. Frau Fiegel verlässt die Kinder aus ihrer Straße.
Miriam Blumenreich stellt die Sache von Anfang an klar: «Wir waren jemand gewesen in Ihrer Straße in Berlin! Mein Vater war Dr. jur., Dr. rer. pol. Merken Sie sich: zweimal Doktor!» Ich zucke zusammen bei dieser doppelten Denotation, die voller Rage ist. Mein Besuch ist für Miriam Blumenreich die Gelegenheit, ihrem Vater seinen gebührenden Platz zurückzugeben, ganz oben in der Ehrenhierarchie der Straße. Bevor sein Leben aus den Fugen geriet. Bevor ein jüdischer Anwalt 1933 auf offener Straße ermordet wurde. Als Herbert Fiegel an jenem Abend nach Hause kommt, verfügt er: «Schluss, aus! Wir verlassen Deutschland, fertig!» Herbert Fiegel ist nicht Zionist, aber er entscheidet sich für Palästina. Seiner Frau wäre Amerika lieber gewesen. In ihren Augen konnten einzig New York oder Chicago Berlin das Wasser reichen.
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