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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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«Palästina, Palästina», hatte ihr Vater Simon Schiftan gerne gespottet, «Palästina ist ein Punkt auf der Landkarte!» Dieser Großbürger, der während der Inflation sein ganzes Vermögen verlor, hätte sich nie in ein so frommes und so fernes Land vorgewagt, er, der am Tag des Sabbats das Taxi nahm und sich an der Straßenecke absetzen ließ, um wie ein guter Jude zu Fuß in der Synagoge anzukommen. Simon Schiftan starb 1931 , einige Monate vor der Geburt von Marianne Gerda. Er hat weder seine Enkelin noch den Nazismus kennengelernt. «Er ist in Weißensee, auf dem Friedhof der Jüdischen Gemeinde», sagt Miriam Blumenreich, als hätte ihr Großvater die Marotte gehabt, plötzlich in ein für ihn passenderes Viertel umzuziehen.
    Am 17 . Juni 1934 besteigt Familie Fiegel in Triest die Pollonia. Bestimmung: der Hafen von Haifa. Oma Else und Oma Tilde werden ein paar Monate später folgen. «Sand, Sand und noch mal Sand!», ruft Miriam Blumenreich und fuchtelt verzweifelt mit beiden Händen, als fürchtete sie, unter ihm begraben zu werden. Sie ist zwei Jahre und acht Monate alt, als sie in Palästina ankommt. Für sie ist das neue Land eine riesige Buddelkiste. Für ihre Eltern eine Wüste, Lichtjahre von den grünen Straßen Schönebergs entfernt. Herbert Fiegel will einen Garten vor seinem Haus. Einen Garten! Inmitten von Sand und Kiesel! Aber er ist dickköpfig. Er pflanzt in Kiryat Bialik Tomaten, Gurken, Orangen, Zitronen und sogar Rosen an. Sie erinnern ihn an den Vorgarten vor dem Haus Nummer  3 , an das einst so unbeschwerte Leben. Als er in der bleiernen Hitze seine Beete umgräbt, zögert der Dr. jur. Dr. rer. pol. Fiegel lange, bevor er seine Jacke ablegt und die Krawatte lockert.
    Er weiß, dass er seinen Beruf hier nie wieder wird ausüben können. Er spricht kein Wort Hebräisch, kennt das Ottomanische Recht nicht, das in Palästina in Kraft ist und «nicht geradeaus ist wie das deutsche», und seine Diplome sind völlig wertlos geworden. Seine Jacke und seine Krawatte geben ihm einen letzten Halt bei all dem Zerfall. Als Herbert Fiegel 1937 eine Blutvergiftung bekommt und wochenlang im Krankenhaus liegt, begibt sich seine Frau heimlich zum Antiquitätengeschäft Cohn & Lubarski in Haifa. Um das Krankenhaus zu bezahlen, verkauft sie alles, was sie von ihrem Berliner Haushalt hat retten können: ihr Silberzeug, ihre Kristallvasen. Alles. Selbst den Brillanten auf ihrem Verlobungsring wechselt sie gegen eine gewöhnliche Perle ein.
    Klara Fiegel, die zwei geschickte Hände hat, orientiert sich um. Sie repariert Petroleumkochöfen. Die Geräte stinken entsetzlich. «Vom Sonnenaufgang bis die Seele rausgeht» arbeitet Miriam Blumenreichs Mutter. Der Arzt entdeckt Tropenwürmer in Klara Fiegels Darm. Die Familie ist bitterarm. Oma Else streicht statt Butter eine dünne Schicht Mostrich auf ihr Brot. Als die Kontrolleure der elektrischen Werke der Gemeinde eines Tages unangemeldet auftauchen, um zu überprüfen, ob der Zähler kaputt ist, weil die Rechnungen immer weniger als ein Kilowatt betragen, erklären die Fiegels, dass sie die 25 -Watt-Birnen an der Decke nur anmachen, um im Finstern den Weg zu finden. Sobald es dunkel wird, gehen sie ins Bett. Um zu sparen. Die Siebenzimmerwohnung in Berlin ist nur noch eine seltsame Erinnerung.
    «In diesem Zimmer haben wir gelebt zu viert. Nebenan hat meine Großmutter mit unseren Büchern aus Berlin eine Leihbücherei eröffnet. Erst 1958 haben wir in einer Mall einen Laden übernommen mit Zeitungen und der Bibliothek meiner Großmutter. Alle arbeiteten da: Vater, Mutter und wir Kinder. Ein Zimmer, das ist heute mein Abstellraum, wurde vermietet. An eine Frau Pollack. Kein anderer in Kiryat Bialik wollte sie nehmen. Wir mussten wieder ganz von vorne anfangen», sagt Miriam Blumenreich. Wenn sie die Sehnsucht nach ihrem Leben als gehätscheltes junges Mädchen in der Berliner Wohnung ihrer Großeltern überkommt, denkt Klara Fiegel an ihre Tante, die umgekommen ist. Der Mann war Friedensmillionär und ist nicht ausgewandert. Er wollte das Geld nicht lassen. Sie kamen nicht mehr rechtzeitig raus. Nein, nein, sagt sich Klara Fiegel. Am Geld bleibt man nicht kleben!
    1936 ist Kiryat Bialik noch keine richtige Stadt. Nichts als eine Baustelle in der prallen Sonne mit Sandpisten, Staub, herumstreunenden Katzen, Distelbüschen und ein paar wenigen provisorischen Baracken, in denen die Immigranten inmitten ihrer Überseekoffer und ihrem Heimweh leben. Kiryat

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