Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
am Sonntag, nicht am Samstag statt. Die Männer tragen keine Hüte. Man spricht von «Konfirmation» statt von «Bar-Mizwa», von «Tempel» statt von «Synagoge». Das Gebetbuch der Reformgemeinde ist zu 95 Prozent auf Deutsch verfasst. Die Speisegesetze werden bei Rothkugels nicht beachtet, ebenso wenig wie die jüdischen Feiertage. Einmal stellt Irma Rothkugel am Jom Kippur einen Schweinebraten mit Sauerkraut auf den Tisch. Leon bricht in Lachen aus: «Irma, jetzt übertreibst du aber. Musst du zum Versöhnungstag ausgerechnet Schweinebraten kochen?»
Den Antisemitismus lernt Hans-Hugo über den Schuhmachermeister in der Nummer 26 kennen, «ein Skelett mit großen Ohren». Seine Mutter hatte ihn geschickt, um nach den Schuhen zu fragen, die schon seit langem neu besohlt sein müssten: «Wenn es dir nicht passt», schleudert ihm der in seinem Stolz verletzte Schuster ins Gesicht, «dann geh doch gleich nach Jerusalem!» Hans-Hugo versteht nicht, was ihm diesen Wutausbruch eingebracht hat. Zehn Jahre später emigriert er nach Jerusalem.
Hitler? Wenn Irma Rothkugel ihre Freundinnen zum Tee empfängt, trumpft sie auf: «Was, dieser Böhme will mir sagen, wo ich hingehöre und was ein Deutscher ist? Der kann ja noch nicht mal richtig Deutsch!» Irma und Leon Rothkugel sind sich der Gefahr nicht bewusst. «Meine Eltern fühlten sich so deutsch. Nie hätten sie sich so etwas vorstellen können. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg Frontsoldat. Eine Granate hat ihm ein Mittelfingerglied der rechten Hand zerfetzt, als er die Hand aus dem Schützengraben streckte, um zu fühlen, woher der Wind blies.»
1934 bricht bei den Rothkugels die Welt zusammen. John nennt es «den Zusammenbruch». Ein Jahr nach Hitlers Machtübernahme, als ob die historische Katastrophe eine nächste, von privater Art, hervorgerufen hätte. Leon und Irma Rothkugel lassen sich scheiden. Leon Rothkugel hat große Geldsorgen. Er steckt in einem üblen Prozess. Die Scheidung ist die einzige Möglichkeit, zu retten, was von Irmas Mitgift noch übrig ist. Hans-Hugo verliert die Straße seiner Kindheit und seine Unbekümmertheit. Er zieht mit seiner Mutter in eine bescheidenere Wohnung in Charlottenburg. Dr. Leon Rothkugel hat nicht mehr das Recht, seinen Beruf auszuüben. Er fristet ein kümmerliches Dasein ohne Einkommen. 1936 flieht er nach Prag. Hans-Hugo wird ihn nie mehr wiedersehen.
Ab 1934 darf Hans-Hugo Rothkugel das Hohenzollern-Gymnasium nicht mehr besuchen. Seine Mutter schickt ihn in ein Privatinternat für jüdische Kinder, das Landschulheim Herrlingen in der Nähe von Ulm. Es wird vom Zionisten Hugo Rosenthal geleitet. Seine Mission: eine jüdische Erziehung für Kinder aus assimilierten Familien. Hans-Hugo ist der einzige Stipendiat des Internats und einer seiner brillantesten Schüler. Er lernt Hebräisch sowie Geschichte und Bräuche des Judentums. Er liest die alten Texte, isst vegetarisch und koscher und schleicht sich nachmittags davon, um im Dorf Cervelatwurst zu kaufen. Er lernt, Felder zu bestellen, und treibt viel Sport, «wie bei der Hitlerjugend. Wir wurden um 6 . 25 Uhr geweckt. Wir mussten den Trainingsanzug überstreifen und zum Waldlauf antreten. Es war noch dunkel, wir rannten mit Fackeln. Nach fünf Kilometern gab es Freiübungen.» 1935 feierte er seine Bar-Mizwa. Seine Mutter und seine Schwester Ilse reisen zu diesem großen Tag aus Berlin an. «In Herrlingen bin ich judaisiert worden», sagt er. «An diesem abgeschiedenen Ort auf dem tiefsten Land konnten die Pädagogen uns formen wie Lehm. Ich musste mir Gewalt antun, um mich an diesen Lebensstil anzupassen. Aber nach vier Jahren war ich endgültig zurechtgebogen! Ich war bereit, nach Palästina zu emigrieren. Herrlingen hat mir vielleicht das Leben gerettet.»
Während des Krieges wird das jüdische Internat geschlossen, und das Haus Breitenfels geht an den Marschall Erwin Rommel über. Es beherbergt heute ein Museum zum Gedächtnis des «Wüstenfuchses», wie der bei Hitler in Ungnade gefallene General genannt wird. «Seltsamer Zufall», spottet John. «Stellen Sie sich vor, ein großer deutscher Feldmarschall hat in einem Judenhaus gelebt! Aber vorher kam der Kammerjäger.»
Von Herrlingen kehrt Hans-Hugo zu seiner Mutter nach Berlin zurück. Er hat nur noch einen Gedanken im Kopf: Emigrieren. Irma Rothkugel will nach Australien. Sie ist, mit ihrem gewohnten Optimismus, überzeugt, dass sie es schaffen wird. Ohne Geld. Ohne Verbindung zu dem Land. «Das war
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