Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
er Portier in einem anständigen Haus. Tante Luzy wurde im Januar 1942 deportiert. John fällt ins Englische zurück: «Erst in diesem hohen Alter erlaube ich mir, Witze zu reißen über eine Frau, die nonstop nach Auschwitz deportiert wurde. Sie war eingebildet. Das ist keine Todsünde.»
Ein kleiner rebellischer Akt dieses Herrn Schulze, eines Sozialdemokraten, verleiht unserer Straße übrigens einen Hauch von Heldentum und Widerstand. Es war zu Beginn der dreißiger Jahre. Hitler war gerade an die Macht gekommen. Drei Nazijünglinge tauchten auf, um im Hausflur ein Plakat anzubringen. Herr Schulze stellte eine große Zimmerpalme davor. Das ganze Haus schmunzelte und fand das in Ordnung. Und es wohnten keineswegs nur Juden in dem Gebäude. Als die Nazijünglinge wiederkamen, fragten sie: «Was soll denn das, was stellen Sie denn dahin?»
Da donnerte Herr Schulze: «Da müssen Sie aber früher aufstehen, wenn Sie mir wat sagen wolln.»
«Sie wissen ganz genau, dass Sie sich gefährden. Sofort weg mit dem Blumentopf!»
«Is det Ihr Blumentopf oder ist det meiner? Det jeht Sie jarnüscht an, wo ick meene Palme hinstelle, die steht da sehr jut.»
Und die Rotznasen zogen wieder ab.
Johns Erinnerungen reihen sich verlässlich aneinander. Da ist nichts Ungefähres. John erinnert sich, dass die Straßennummern in Hufeisenform angebracht waren. Er erinnert sich, dass sich die Nüchternheit der Fassade seines Hauses «bereits von der wilhelminischen Üppigkeit abgewandt hatte». Keine Putten, keine Atlanten. «Die Balkone waren Vorsprünge ohne jede künstlerische Ambition.» Ich betrachte die Wohnung gegenüber, sehe die Rothkugels vor mir. Ich beobachte das Leben auf dem Gehsteig. Die Vergangenheit vermischt sich mit der Gegenwart. Seine Straße und meine. Welcher Kontrast, wenn ich die beiden übereinanderlege. Wie tot meine heute ist. John ist auf einmal beunruhigt: «Aber die Straße wurde doch wieder aufgebaut, sorgfältig, im Stil der damaligen Zeit? Und nicht im Sowjetlook, hoffe ich?»
Hans-Hugo Rothkugel wächst in einer Familie auf, in der «alles Jüdische mit einem obskuren Schandfleck behaftet war, wie eine Geschlechtskrankheit». Leon Rothkugel ist ein Exzentriker. Sohn von Albert Rothkugel, Prokurist der Bleichröder Bank, der größten jüdischen Privatbank, die Bismarcks preußisch-französischen Krieg finanziert hatte. Der Großvater war ein strenger Preuße, sparsam, ohne jeden Humor. Nie hellte ein Lächeln sein Gesicht auf. Jeden Sonntag oktroyierte er seiner Familie einen Spaziergang in geschlossener Formation zum Savignyplatz auf. Bei schlechtem Wetter wurde eine Regenpelerine übergestreift. Und dann schälten die Rothkugels auf einer öffentlichen Bank ihre hartgekochten Eier.
Leon Rothkugel ist das genaue Gegenteil seines Vaters. Er mag Operetten, Frauen, Mathematik und Schach. «Eine Marotte respektabler als die andere», mokiert sich sein Sohn. Leon Rothkugel verbringt seine Abende damit, nach dem mathematischen Gesetz zu suchen, das die Periodizität der Primzahlen beweist. Irma Rothkugel ist entsetzt über die «etwas gewagten» Schlager, die Leon seinem Sohn beibringt
. «Ich hab das Fräulein Helen, Fräulein Helen baden sehen. Das war schön. Wunderschön …
»
In Berkeley ist es vier Uhr nachmittags. Ein uralter Mann trällert in seinem Bett
«Ich küsse Ihre Hand, Madame. Und träum, es wär Ihr Mund … Ich bin ja so galant, Madame …»
und freut sich wie ein Schelm: «Ach, ach, ick fall um!»
Leon Rothkugel ist sich kaum bewusst, Jude zu sein. «Er hatte sogar eine leicht antisemitische Seite», gesteht sein Sohn. Leon Rothkugel verachtet die
Ostjuden
, diese armen Juden mit obskuren Traditionen aus den polnischen oder ukrainischen Schtetl. Wenn die polnischen Cousins zu Besuch kamen, schaute Leon Rothkugel auf sie herab. Hans-Hugo ist dreizehn, als sein Vater ihn in die Grenadierstraße mitnimmt. Lichtjahre von diesem Bayerischen Viertel entfernt, das die Berliner «jüdische Schweiz» nennen. Er hört zum ersten Mal Jiddisch, diesen «Jargon», wie es sein Vater nennt. Er erinnert sich an den Geruch von weichgekochtem Kohl und nasser Wäsche. Schwarz gekleidete Männer mit breitrandigen Kopfbedeckungen, langen Schläfenlocken und zahllosen Kindern. Eine völlig andere Welt, diese mittelalterlichen Gassen rund um den Alexanderplatz. Leon Rothkugel ist Mitglied der jüdischen Reformgemeinde, einer aus damaliger Sicht liberalen Kongregation. Der Gottesdienst findet
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