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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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der helle Wahnsinn! Man musste im Sommer 1938 , kurz vor der Kristallnacht, kein verbissener Pessimist sein, um zu begreifen, dass es immer schlimmer und schlimmer wurde. Meine Mutter war von Blindheit geschlagen …» Ilse arbeitet bei der Reichsvertretung der Deutschen Juden unter der Leitung des Rabbiners Leo Baeck. Sie weiß um die Schikanen gegen die Juden. Auch sie will raus, raus, bloß raus hier. Anfang 1938 emigriert sie nach Palästina.
    Von dort erhält Hans-Hugo einen Brief, dessen Inhalt er noch heute auswendig kennt. Der Direktor des Konservatoriums in Jerusalem, Emil Hauser, ein international renommierter Violinist, bietet ihm ein Vorspiel an. Hans-Hugo übt Tag und Nacht. Chopin und Bach werden ihm das Leben retten. Emil Hauser ist bereit, ihn für 4000  Reichsmark aufzunehmen, Studienkosten und Lebensunterhalt für zwei Jahre. Tante Luzy nimmt die Sache in die Hand. Sie lädt Onkel Erich, den Einzigen in der Familie, der noch über ein bisschen Geld verfügt, zum Tee ein: «Erich, du wirst es dein ganzes Leben bereuen, wenn du dem Kleinen nicht hilfst!» Onkel Erich gibt dem «Ansturm der Tante Luzy» nach.
    Irma Rothkugel begleitet ihren Sohn nicht zum Anhalter Bahnhof. John bringt die Erzählung der Abschiedsszene rasch hinter sich. «Stellen Sie sich bloß keine Tränen und Umarmungen vor. Ich war sehr angespannt. Hätte ich dem leisesten Gefühl nachgegeben, wäre ich schwach geworden und nicht gefahren. Als ich die Wohnungstür hinter mir zuschlug, war ich erleichtert wie jemand, der einem Feuer entronnen ist. Ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde.»
    Hans-Hugo Rothkugel ist knapp sechzehn, als er in den Zug von Berlin nach Venedig steigt, um das Schiff der Compagnie Lloyd Triestino zu erreichen. Er verlässt Deutschland in letzter Minute. Es ist die letzte Septemberwoche des Jahres 1938 . An die Reise hat John keine genaue Erinnerung. Zum ersten Mal lässt ihn sein beeindruckendes Gedächtnis im Stich. Er kann sich nur noch vage an die
Galileo
entsinnen, an Bord deren er das Mittelmeer überquert hat. Und an den Lautsprecher, der in regelmäßigen Abständen skandierte:
«Peace in our time!»
Daladier, Chamberlain und Mussolini unterzeichneten gerade mit Hitler die «Katastrophe von München», wie John Ron das Abkommen vom 30 . September 1938 nennt, das den Frieden in keiner Weise sicherte, im Gegenteil. Im Hafen von Haifa wird er von einem entfernten Cousin seiner Mutter empfangen, der ihn für ein paar Tage bei sich auf dem Carmel unterbringt. Er schläft in einer mit Decken vollgestopften Badewanne.
    Sechs Wochen später, am 9 . November 1938 , werden die jüdischen Geschäfte verwüstet, die Synagogen in Brand gesteckt. Leon Rothkugel hält sich in Prag mit dem Verkauf von Büroartikeln über Wasser. Er versucht mit allen Mitteln, ein «Einreisevisum irgendeines Staates» zu bekommen. Am 13 . Dezember 1938 beschreibt er seiner Tochter Ilse in Palästina in einem letzten Brief von eisiger Klarsicht die «furchtbaren Einzelheiten», von denen er gehört hat: «In Komotau sind die jüngeren Leute unter Fußtritten und Kolbenstößen gezwungen worden, kniend bis zur Demarkationszone zu rutschen. In Saaz ist ein 80- jähriger Advokat mit einem Strick um das Bein und einer Tafel ‹Judenschwein› um den Hals auf allen vieren über den Viehmarkt getrieben worden.» Leon Rothkugel sitzt in einer «Rattenfalle» fest: «Hier sieht es so aus. Die Regierung in Prag ist noch demokratisch, die Slowakei schon stark faschistisch. Man ist aber sehr auf den großen Nachbarn angewiesen und muss letztlich tun, was» – Leon Rothkugel zeichnet einen Kopf: Tolle, kleiner Schnauzbart, große Ohren; er weigert sich, den Namen «Hitler» zu schreiben – «verlangt. Unter diesen Umständen müssen alle Immigranten Prag verlassen. Dadurch entsteht eine große Panik. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass die ganze Welt die armen heimatlosen Juden bedauert, aber niemand sie haben will. Darum muss ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen, denn ich will nicht warten, bis es zu spät ist.»
    Ilse ist Mitbegründerin des Kibbuz Hazorea im Jordantal. Sie lebt in einem Zelt, nimmt in einer Holzbaracke frugale Mahlzeiten zu sich, bearbeitet die fruchtbare Erde, gräbt und pflügt, sät und gießt. Diese idealistischen jungen deutschen Intellektuellen graben mit der Hand die Steine aus und lassen auf dem Mount Carmel einen Wald sprießen, der eigenartig dem Schwarzwald ähnelt. Abends sitzen sie

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