Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
Vom Netzwerk:
gezwungen, Stenographie, Nähen und Haushaltsführung zu lernen.
    Gustav Bickenbach misstraut den großen Städten. Nach monatelanger Diskussion gibt er notgedrungen nach: «Ist gut, Mädchen, aber nur unter einer Voraussetzung: Ich besorge dir eine Wohnung und eine Stelle!» Liselotte wohnt bei Bekannten ihres Vaters. Gustav Bickenbach gibt ihnen genaue Anweisungen: kein Umgang mit jungen Männern. Liselotte ist noch mehr unter Kontrolle als zu Hause. Nach ein paar Wochen hat sie es satt, nach Mitternacht auf den Zehenspitzen, die Pumps in den Händen, durch die Wohnung zu schleichen, wenn sie tanzen war. Sie beschließt umzuziehen. Eines Abends geht sie nach Dienstschluss meine Straße entlang. An den Hauswänden überall «Zu vermieten»-Schilder. Die Wirtschaftskrise hat viele Leute in Bedrängnis gebracht. Sie versuchen ein Zimmer unterzuvermieten, um über die Runden zu kommen. Liselotte Bickenbach klingelt an der Nummer  3 des Platzes. Frau Nehrenberg bittet sie herauf. Die beiden Frauen sind sich sofort sympathisch. Einige Tage später bezieht Liselotte ein kleines möbliertes Zimmer. Frau Nehrenberg, eine mittellose Witwe mit drallem Busen, hat bei jedem Kummer ein tröstendes Wort. Liselotte nennt sie bald «Mutti Nehrenberg», was ihr ganz natürlich vorkommt. Von ihrem Fenster aus sieht sie die Schule am anderen Ende des Platzes. Mutti Nehrenberg vermietet noch drei weitere Zimmer. Am Abend treffen sich die Untermieter in der Küche zum Plaudern. Es ist die erste WG in meiner Straße.
    Liselotte ist Sekretärin beim Oberkommando der Wehrmacht, Abteilung Ausland. Danach wird sie zum OKM versetzt, Oberkommando der Marine, 3 . Abteilung, Seekriegsleitung. Sie arbeitet für den Gruppenleiter für Feindaufklärung, der die Überwachung der internationalen Seehandelswege zur Unterstützung des U-Boot-Kriegs gegen die Alliierten unter sich hat. Morgens verlässt Liselotte, kurzer Bubikopf und enganliegender langer Musselinrock, das Haus, geht in wogendem Schritt die Straße entlang und die U-Bahn hinunter. In dieser Straße, weit ab vom Haus ihrer Eltern, lernt Liselotte die Freiheit und die Liebe kennen.
    Als sie eines Abends von einem Wochenende in Swinemünde zurückkehrt, wird sie auf dem Stettiner Bahnhof von einem jungen Mann angesprochen, der sie zu einer Erfrischung einlädt. Er ist groß, blond und gut erzogen, Liselotte nimmt an. Mutti Nehrenberg drückt ein Auge zu, wenn ihre Untermieterin Herrenbesuch bekommt. Ihr Mann ist jung gestorben, und die beiden Verliebten rühren sie. Liselotte und Wilhelm Wagner leben mehrere Monate in «wilder Ehe», bevor sie heiraten. Die Feier findet am 19 . September 1942 im Rathaus Schöneberg in ganz kleinem Kreis statt. Liselotte hat ihre Eltern nicht informiert. Sie stellt sie vor vollendete Tatsachen. Gefeiert wird auf dem Gutshof der Familie Wagner in Ostpreußen. Dorothea und Gustav Bickenbach sind nicht eingeladen. Sie, die von einer großen Heirat für ihre Tochter träumten, um vor aller Augen ihr Glück und ihren sozialen Erfolg auszustellen. Das junge Paar lebt die ersten Monate im Zimmer bei Mutti Nehrenberg. Dann finden sie eine Wohnung in Tempelhof. Der Unteroffizier Wilhelm Wagner ist Flugingenieur und Testpilot und in der Flugerprobungsstelle der Luftwaffe in Rechlin, nördlich von Berlin, stationiert.
    Am 17 . September 1944 , zwei Tage vor dem zweiten Hochzeitstag, nimmt Liselottes Glück ein jähes Ende. Bei einem Probeflug stürzt die Maschine des Testfliegers Wagner am späten Nachmittag vom grauen Himmel. Ein bedauerlicher Unfall, steht auf dem Telegramm des Standortkommandanten. Liselotte erhält einen Beutel mit den Privatgegenständen ihres Mannes. Einer der beiden Lederstiefel fehlt. Die blutjunge Witwe kehrt zu Mutti Nehrenberg zurück, die ihr Trost zu spenden versucht. Sie findet sich wieder in der Umgebung ihrer anfänglichen Liebe, deren Erinnerung noch ganz frisch ist. Für Liselotte ist das so kurze Glück in diesem kleinen Zimmer in meiner Straße erstarrt.
     
    Ich habe Liselotte Bickenbach nur ein einziges Mal gesehen. Es war wenige Monate vor ihrem Tod. Im Gemeinschaftssaal ihres Altersheims in Berlin, ganz in der Nähe meiner Straße. Es war ein wenig so, als wäre sie nach einem sehr langen Leben dahin zurückgekehrt, wo es seinen Anfang genommen hat. Wenige hundert Meter vom Haus der Mutti Nehrenberg bereitete sie sich aufs Sterben vor. Und das war vielleicht mehr als ein Zufall.
    Liselotte Bickenbach, eine hagere, knochige

Weitere Kostenlose Bücher