Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Familie kam, weigerte sie sich zu essen. Man hatte ihr erzählt, die Nahrung der Deutschen sei vergiftet.
Und dann das schwarze Loch. Die muffige Luft. Der enge Raum. Der Luftschutzwart schließt die Stahltür am oberen Ende der Kellertreppe. Eine Birne an der Decke wirft ein schwaches Licht auf die gekalkten Wände. In ihre Mäntel gehüllt sitzen die Mieter der Nummer 19 aneinandergedrängt im Dämmerlicht auf den Bänken. Jeder hat seinen Stammplatz. Es gibt nur Alte, Frauen und Kinder. Sie sind aus dem Schlaf gerissen worden. Die Frauen stricken, flicken. Man spricht mit leiser Stimme. Jemand murmelt ein Mariengebet. Man wartet, dass es an einem vorbeigeht. Die Straße über ihren Köpfen ist dem glänzenden Himmel ausgeliefert. Das Brummen der Lancaster. Wiiii … jetzt kommt was! Sprengbomben, Brandbomben, Blindgänger, Feuerregen … Ursula kennt den Abzählvers des Luftkriegs auswendig.
Der Luftschutzwart wacht mit seinem Helm und seiner Feuerpatsche, einem langen Stiel mit nassem Lappen am Ende, um ausbrechende Brände zu löschen. Ursula fragt sich, was für ein Rieseninsekt er mit seiner großen Fliegenklatsche zu Brei schlagen will. Sie starrt auf die nackte Glühbirne, die bei jedem Knall über der Straße an der Decke flackert. Ihre Mutter Annaliese Krüger hat eine Kastenmatratze in den Keller geschleppt. Ursula schläft wieder ein. Das Wunder der Kindheit. Draußen donnern die Bomben. Die Kinder schlafen. Michael und Andreas sind wie zwei verängstigte Füchslein aneinandergeschmiegt. Ursula presst Kiras Hand.
Von diesen Schreckensnächten hat Ursula Krüger eine panische Angst vor geschlossenen und dunklen Räumen zurückbehalten. Das ist der Grund, warum sie nicht gern ins Kino geht, warum sie Silvesterböller und Fabriksirenen nicht ausstehen kann.
Annaliese Krüger sitzt auf dem Rand der Matratze. Sie hält sich kerzengerade, als wäre diese stolze Haltung fähig, die Angst einzudämmen, die ihr den Bauch hochkriecht. Sie denkt an diese Brandbombe, die vor ein paar Tagen in eine Ecke des Badezimmers gefallen ist. Ein Blindgänger. Als Annaliese Krüger aus dem Keller zurückkam, entdeckte sie das dicke Ei hinter der Tür. Sie rief den Luftschutzwart, der die Bombe mit viel Handgeschick und Kaltblütigkeit entschärft und rausgeholt hat, als handelte es sich um einen banalen Splitter, der aus einer Fußsohle gezogen werden muss. Annaliese Krüger hat seine Tüchtigkeit sehr gelobt und ihm ein Trinkgeld in die Tasche seiner Kittelschürze geschoben, wie man einem eifrigen Laufburschen dankt.
Ringsum der dumpfe Lärm der Fassadenteile, die auf die Straße krachen. Die Mauern vibrieren. Kalk rieselt von der Decke. Und dann Stille. Eine sonderbare Stille. Die Mieter der Nummer 19 versuchen herauszufinden, welches Haus getroffen wurde. Die 20 vielleicht … Oder die 11 gegenüber? Lieber Gott, mach, dass es nicht unsres ist! Annaliese Krüger denkt an ihre Möbel oben im vierten Stockwerk ohne Fahrstuhl, die so empfindlich sind. Und wenn eine Sprengbombe ins Dach der Nummer 19 gedrungen ist und alles ansteckt? Wenn das Feuer von einem Zimmer zum nächsten springt und alles in Brand setzt? Die ganze Wohnung in Flammen aufgeht wie ein Bündel Stroh? Ihre eigenen Eltern in einer benachbarten Straße sind gerade ausgebombt worden. «Wir kamen raus und wir standen vor dem Nichts», haben sie erzählt. Annaliese Krüger kann die Bilder nicht aufhalten, die in rasender Geschwindigkeit vor ihren Augen vorüberziehen. Die Kirschbaumkommode, ein Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern, die sie bei einem der gefragtesten Antiquitätenhändler am Kurfürstendamm erstanden haben … Verkohlt. Das stolze englische Buffet im Speisezimmer … Zu einem kümmerlichen Aschehäufchen reduziert. Die mit Lapislazuli versetzte Wanduhr, die im Herrenzimmer die Stunden zählte … Nur noch ein verrußtes Eisenskelett. Dieselbe Uhr, die vor kaum drei Jahren noch den Takt der schönen bürgerlichen Harmonie im Hause Krüger geschlagen hat: Mahlzeit, Bad, Kinder zu Bett bringen, Kaffeekränzchen, Waschtag und Frühjahrsputz. Annaliese Krüger sieht noch vor sich, wie sie auf Knien die Stuhlbeine im Speisezimmer poliert. Denn sie kümmert sich höchstpersönlich um ihre Möbel. Die Dienstmädchen dürfen da nicht ran. Und wenn etwas kaputt geht, ist das Drama groß.
Annaliese Krüger sieht, auf ihrem Matratzenrand im Keller, ein riesiges Inferno vor sich, das ihr sorgloses Leben als junge Ehefrau dahinrafft. Ein Leben, das
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