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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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von morgens bis abends an ihrer Nähmaschine. In vollen Kartons liefert sie die BDM -Uniformen, die sie schneidert. Aus den Stoffresten stellt sie Krawatten her.
    Die 19 ist noch einmal davongekommen. Aber die Bomber werden wiederkehren. Wenn das Radio ankündigt: «Fliegerverbände über dem Raum Hannover-Braunschweig», wissen die Bewohner meiner Straße: Wir sind bald dran. Alles könnte noch vernichtet werden. Dann hat Annaliese Krüger nur einen Gedanken im Kopf: Die Möbel müssen gerettet werden! Und falls sie sie nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann, will sie wenigstens eine Erinnerung an sie haben. Annaliese Krüger engagiert einen Fotografen. Vor dem Termin macht sie die Wohnung zurecht. Sie räumt auf, staubt die Möbel ab, streicht die Tagesdecken glatt. Sie will ihren Haushalt im besten Licht zeigen. Der Fotograf geht von einem Raum zum nächsten. Stellt sein Stativ auf.
    Er schießt zwölf Schwarzweißbilder. Annaliese liebt ihre antiken Möbel. Sie hat jedes einzelne selbst ausgewählt. Das Herrenzimmer mit der Standuhr und der Gipsbüste von Hitler, ein Geschenk des Kaplan-Onkels, nebeneinander auf dem Bücherregal. Das Elternschlafzimmer mit dem Bett, weißer, goldverzierter Schleiflack, und gelbblauen Gardinen. Auf dem Bett eine grobe beigefarbene Wolldecke. Die Seidendecke mit den himmelblauen japanischen Blüten hat Annaliese bereits in einem Überseekoffer im Keller in Sicherheit gebracht. Das Kinderzimmer mit dem Wickeltisch und den Spielsachen. Über der Wiege anstelle eines Mobiles ein Hakenkreuzwimpel. Die Wanne im Badezimmer ist mit Wasser gefüllt, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall eines Brandes. Die Fensterscheibe in der Küche ist mit einem Stück Pappe abgedichtet. Es gibt kaum eine Glasscheibe in der Straße, die noch nicht in Scherben gegangen ist. Selbst das winzige Mädchenzimmer, ein schmaler Schlauch zwischen Küche und Badezimmer, ist verewigt worden.
    Im Jahr 1943 verlässt Annaliese Krüger meine Straße für immer. Wilhelm Krüger ist weit weg. Die Briefe von der Front tröpfeln nur spärlich ein. Die Bombardements nehmen an Intensität zu. Ende des Sommers sind die Frauen und Kinder meiner Straße gezwungen, Berlin zu verlassen. An der Litfaßsäule auf dem Platz sind Plakate mit Aufrufen zur Evakuierung angeschlagen. «Mutti, bring mich weg! Der Luftterror geht weiter!», schreit ein verängstigtes Kind darauf. Annaliese Krüger, ihre drei Kinder und die zwei Dienstmädchen flüchten nach Zehdenick in der Mark Brandenburg, in der Nähe von Oranienburg. Hier steht das große «Ackerhaus» ihrer Schwiegereltern. Einige Tage später treffen die Möbel aus Berlin ein. Auf Kähnen gleiten sie langsam über die Havelkanäle, quer durch Wiesen und Felder, von den Zweigen der Haselnusssträucher im Unterholz gestreift. Unter dem Applaus der Dorfbewohner passiert die surreale Prozession die Zugbrücke am Eingang von Zehdenick.
    Stück für Stück wird das Interieur der Berliner Wohnung wiederhergestellt. Eine herrliche Zeit für die Kinder. Keine Luftschutzkeller. Keine Sirenen. Der Hunger hält sich in Grenzen. Annaliese Krüger hat im Hof einen Garten eingerichtet. Die Bauern der Mark haben in ihrer Stube drei Klaviere stehen und im Küchenbuffet Kristallgläser. Die Berliner kommen, um ihre Möbel gegen eine Ration Butter oder Schinken einzutauschen. Man ist bereit, alles herzugeben, um etwas zu essen zu bekommen.
    Am Tag der Einschulung seiner Tochter erhält der Funker Wilhelm Krüger Urlaub. Der Lehrer, der mit einer verkrüppelten Hand und nur einem Auge zurückkehrt, flößt Ursula Angst ein. In Zehdenick sprechen die Erwachsenen in Anwesenheit der Kinder nicht vom Krieg. Der Krieg ist nur ein Gemurmel. Ein Hintergrundgeräusch. Hinter der halboffenen Tür versteckt, lauscht Ursula den Gesprächen. Annaliese Krüger und Kira flüstern. Ursula streicht die Wände entlang, legte das Ohr an die Tür, hält den Atem an. Einmal zerschlägt sie mit der Faust eine Scheibe. Die Erwachsenen haben die Fenstertür mit dem Schlüssel abgeschlossen, um sich in Ruhe unterhalten zu können. «Ich wollte das Geheimnis wissen», sagt sie zu ihrer Mutter, während sie die blutende Hand schwenkt.
    In der Nacht vom 22 . auf den 23 . November 1943 geht auf unsere Straße ein Bombenteppich nieder. Manche Nachbarn erzählen, dass diese Bomben nicht einmal für sie bestimmt waren: Die Royal Air Force hatte das Zooviertel anvisiert. Nach erfüllter Mission drehten die Lancaster um. Aber

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