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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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sie hatten ihre Ladung noch nicht aufgebraucht. Es war noch zu viel Gewicht im Bombenschacht, und die Flugzeuge mussten leichter werden, um für den Rückflug bis an die Küste von Norfolk Kerosin zu sparen. Also wurde Befehl gegeben, sie vor Verlassen des Berliner Luftraums nach Zufallsprinzip abzuwerfen. Und der Zufall hatte genau meine Straße ausersehen.
    Eine andere, höchst bedenkliche Version hat mir kürzlich ein Händler unserer Straße erzählt: «Das waren die Juden, die das Viertel absichtlich – aus Rache – bombardierten, weil sie wussten, dass die Bonzen der NSDAP in ihre Wohnungen eingezogen waren.» Als ich zu bemerken gab, dass die Juden aus unserer Straße entweder nach Auschwitz deportiert wurden oder ans andere Ende der Welt emigriert sind und es also ziemlich unwahrscheinlich war, dass sie an Bord englischer Bomber saßen, raunte er mir mit verschwörerischer Miene zu: «Aber Sie wissen doch, die Juden, die sind so gut durch die ganze Welt vernetzt …» Wie vor den Kopf gestoßen, machte ich, dass ich aus dem Laden kam.
     
    Bombenteppich … Diese Metapher, dem Wortschatz der perfekten Hausfrau entlehnt, verleiht der Gewalt, die meine Straße verwüstet hat, einen Anstrich der Unschuld: In jener Nacht haben Hunderte von Bomben der Royal Air Force sie beinahe dem Erdboden gleichgemacht. In Zehdenick rennen Annaliese Krüger und ihre Kinder in den Hof und beobachten diesen Widerschein von ungewohnter Intensität über dem fernen Berlin. Ursula ahnt, dass dieser Abendrothimmel nichts Gutes zu bedeuten hat. Haben die Bomben die Nummer  19 zerstört? Gleich am nächsten Tag steigt sie in den Zug nach Berlin, um sich ein Bild zu machen. Die Keller qualmen noch. Die halbe Straße liegt in Trümmern. Aber die 19 steht noch.
    Die Kaiser-Barbarossa-Apotheke im Haus Nummer  1 auf dem Platz, das die Ecke zu meiner Straße bildet, ist vollständig zerstört. Sie war seit 1906 im Erdgeschoss des prächtigen, von Robert Zetzsche erbauten Gebäudes untergebracht. Am 16 . Oktober 1944 schreibt Ludwig Guercke, Inhaber der Apotheke, an den Polizeipräsidenten von Berlin: «Durch den Terrorangriff am 22 . November 1943 wurde die von mir geleitete Kaiser-Barbarossa-Apotheke total zerstört. Dabei verbrannten wichtige Papiere.» Er verlangt Abschriften der Konzessionsurkunde und der Inventarliste, damit er sie zu den Akten legen kann.
Heil Hitler!
Als Ludwig Guercke am 19 . Juli 1945 erneut an den Herrn Polizeipräsidenten schreibt, wählt er Wörter mit eindeutig weniger ideologischem Beigeschmack: «Die von mir geleitete Kaiser-Barbarossa-Apotheke wurde am 23 . November 1943 durch Fliegerbomben total zerstört.»
    Günter Wolowski, der Ingenieur aus der Nummer  25 , fertigt eine Skizze der Schäden in unserer Straße an. Auf die getroffenen oder total zerstörten Gebäude kritzelt er einen fetten roten Stern. Die Nummer  25 ist von ihrem Seitenflügel amputiert. Die 26 , die 3 , die 5 und die 7 sind verschont geblieben. Günter Wolowski hält Mauerdurchbrüche, Gas- und Wasserhähne fest. Er zeichnet Schutzräume, Kellertreppen und die Notstiegen. Die Aufzeichnung, von den aktuellen Mietern der 25 wie eine Reliquie aufbewahrt, gleicht einer kleinen filigranen Bleistiftzeichnung von Paul Klee.
    Ich habe keine Ahnung, wie viele Zivilpersonen bei den Bombardements meiner Straße getötet worden sind und ob überhaupt eine Zählung durchgeführt wurde. 1939 haben laut den Erhebungen der Volkszählung noch insgesamt 306  Menschen in meiner Straße gewohnt. Das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl für diese nicht allzu lange Straße. Wie viele von ihnen haben die Kriegsjahre überlebt?
    Als sich die Russen nähern, findet ein neuer Exodus statt. Ende Januar 1945 packt Annaliese Krüger in Zehdenick ihre Kinder, einen großen Sack und nimmt den letzten Zug. Annaliese Krüger flüchtet sich ins Haus ihrer Familie in Erfurt. Ein Gebäude mit klassizistischen Säulen, vor der Stadtmauer gelegen, ein ehemaliger Sommersitz der Ursulinen. Das ganze Haus ist voller Flüchtlinge aus dem Ruhrgebiet. Eine Familie pro Zimmer. Die Krügers bekommen zwei Zimmer. Die Eltern im ersten Stock, die Kinder unter dem Dach. Diesmal bleiben die Möbel in Zehdenick. Auch Kira. Sie muss auf die Möbel aufpassen. Sie schickt Pakete mit Kleidern und nicht sehr sperrigen Sachen nach Erfurt. Die deutsche Post funktioniert bis zu den letzten Kriegstagen normal. Kira heiratet im Hochzeitskleid der Annaliese Krüger Iwan, den Knecht vom

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