Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
daniederliegt. Ein klägliches Bild, das so gar nicht zum triumphierenden Wirtschaftswunder passen will, das sie mit viel Mühe zu Wege bringen. Sie wollen sich nicht mit all den Spuren der imperialen Vergangenheit belasten. Alles muss schön ordentlich und sauber sein. Verzierungen und Spielereien versinken im Staub. Man verpasst den Häusern einen glatten, grauen Einheitsputz, stumpf und wesenlos. Meine Straße verliert ein Stück ihrer Seele.
Ich habe mich angesichts dieser von ihrem Schmuck amputierten Fassaden oft gefragt, warum die Nachkriegsdeutschen für ihre wenigen alten Gebäude, die von den Bomben verschont geblieben sind, so wenig Wertschätzung bezeugen. Diese methodische Zerstörung des Stucks ist in Frankreich ein völlig unbekanntes Phänomen, nicht einmal im Elsass wurden die wilhelminischen Gebäude aus der Periode des Reichslands derart verstümmelt. Dabei hätten die Elsässer nach dem Zweiten Weltkrieg allen Grund gehabt, die Spuren ihrer deutschen, für ihre zerrissene Identität so unbequemen Vergangenheit zu tilgen. 1945 wollten sie mit diesem von allen verhöhnten großen Nachbarn am anderen Rheinufer nichts mehr zu tun haben. Aber sie ließen die Architektur unangetastet. Das ist der Grund, warum mir meine Berliner Straße auf Anhieb vertraut vorgekommen war. Als wäre sie aus dem Dekor meiner Straßburger Kindheit ausgeschnitten. Sie glich exakt der Straße im deutschen Viertel hinter der Place de la République, dem ehemaligen Kaiserplatz, in der sich meine Studentenmansarde befand. Der Schnitt der Wohnungen und Treppenhäuser, der Terrazzo der Küchen, der Stuck der Fassaden waren dieselben. Mit dem Unterschied, dass meine Straßburger Straße intakt geblieben ist, eine friedliche Schönheit, der nie jemand etwas zuleide tun würde. Meine Berliner Straße dagegen war beinahe bis zur Unkenntlichkeit zerstört.
Ein Ausländer täuscht sich leicht über die Epoche, wenn er die nackten Hauswände sieht, die wie gerupfte Hühner ohne ihren Federschmuck dastehen. Als Evelyn, Hannah Kroner-Segals Tochter, mich einige Wochen nach unserer Begegnung in New York in Berlin besuchte, hielt sie die Häuser aus dem Jahr 1904 für Fünfzigerjahrebauten. Ich musste ihr die Türen aufschieben, die Eingänge und Treppenhäuser zeigen, damit sie die Verbindung zwischen außen und innen herstellen, die Fassade ihrer Zeit zuordnen und sich den Rahmen für das Leben ihrer Mutter vor ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten ausmalen konnte. Wurden die Häuser meiner Straße damit auf Kosten doktrinärer Prinzipien ihrer Erinnerungen beraubt? Man kann sich tatsächlich fragen, wer sie mehr zerstört hat: die Bombenladungen, die die Royal Air Force abwarf, oder die eifrigen, phantasielosen Stadtplaner der Nachkriegszeit, die es kaum abwarten konnten, sie zu sprengen oder die letzten Überreste ihrer kaiserlichen Vergangenheit zu schleifen.
Meine Straße macht sich frenetisch, beinahe frohlockend an den Wiederaufbau. Die Bagger und Betonmischmaschinen verwandeln sie zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert in einen immensen Bauplatz. Kräne ragen in den Himmel. Arbeiter sind vom frühen Morgen bis spät in der Nacht am Werk. Manchmal sogar im Licht von Scheinwerfern. Es mag regnen oder schneien, selbst an Samstagen. Man hat den Eindruck, sie arbeiten rund um die Uhr. Die Ärmel werden hochgekrempelt. Es wird gehämmert, gebaggert, gegraben, gesägt. Ein ständiger Lärm. Es wird geschafft und geschwitzt. Angepackt und geackert. Mit etwas schwarzem Humor könnte man sagen, meine Straße sei wieder zum Startfeld zurückgekehrt. Dem Schein nach herrscht in den fünfziger und sechziger Jahren dieselbe Aufbruchsstimmung wie 1904 . Aber meine Straße hat die fiebrige Unbekümmertheit vom Anfang des Jahrhunderts verloren, diese naive Begeisterung, sich eine ewige Zukunft zu bauen. Sie macht sich mit einer trotzigen Verbissenheit daran, die Schäden zu reparieren, das erlittene Grauen zu überdecken, die Angst zu ersticken.
Meine Straße ist im Übrigen keine schicke Adresse mehr. Mit dem großbürgerlichen Vorkriegswohlstand ist es vorbei. Die Adressbücher der sechziger und siebziger Jahre zeigen, wie sich die soziale Zusammensetzung geändert hat. Verschwunden sind die Professoren und Anwälte, die Rentiers und hohen Militärgrade. Meine Straße bevölkert sich mit Handwerkern, Verkäuferinnen, Angestellten und kleinen Beamten. Eine Schaffnerin ist zu finden, eine Schneiderin, ein Maler, ein Dreher und ein
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