Rum Diary: Roman zum Film (German Edition)
Launen mochte ich ihn. Ich schätzte ihn auf ein paar Jahre älter als mich, vielleicht zweiunddreißig oder dreiunddreißig. Er gab mir das Gefühl, ihn schon lange zu kennen.
Auch Yeamon kam mir vertraut vor, aber nicht so nah. Er war vielleicht vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, und er erinnerte mich nicht nur an jemanden, den ich
längst aus den Augen verloren hatte – sondern auch an mich selbst in dem Alter. Nicht daß ich damals so war wie er. Doch wenn ich mir Zeit genommen hätte, darüber nachzudenken, wäre einer wie er sicher mein Vorbild gewesen. Wie ich ihn reden hörte, wurde mir bewußt, wie lange ich schon nicht mehr das Gefühl gehabt hatte, die ganze Welt im Sack zu haben; und wie schnell die Geburtstage an mir vorbeigezogen waren seit meinem ersten Jahr in Europa, als ich so ahnungslos und gleichzeitig selbstsicher war, daß mich schon der kleinste Glückssplitter dazu brachte, mich wie ein strahlender Champion zu fühlen.
So ist es mir schon lange nicht mehr gegangen, dachte ich. Vielleicht waren all die letzten Jahre eine Art Hinterhalt gewesen, und das Gefühl, ein Champion zu sein, wurde mir unter dem Hintern weggeschossen. Jetzt erinnerte ich mich wieder daran, und ich kam mir alt vor und war ein bißchen unruhig, weil ich nach so langer Zeit so wenig erreicht hatte.
Ich lehnte mich zurück und trank einen Schluck. Der Koch schepperte in der Küche herum, und aus irgendeinem Grund war das Piano verstummt. Statt dessen war von drinnen in der Bar spanisches Gebrabbel zu hören, ein unverständliches Hintergrundgeräusch für meine verquirlten Gedanken. Zum ersten Mal spürte ich die Fremdheit des Ortes und die tatsächliche Entfernung, die ich seit meiner letzten sicheren Stellung zurückgelegt hatte. Es gab keinen Grund, sich unter Druck zu fühlen, aber ich spürte ihn trotzdem – den Druck von heißer Luft und verrinnender Zeit, eine grundlose Anspannung, die sich in Gegenden aufbaut, wo Menschen vierundzwanzig Stunden am Tag schwitzen.
2
AM NÄCHSTEN MORGEN stand ich früh auf und ging schwimmen. Die Sonne brannte herunter, und ich lungerte einige Stunden am Strand herum, in der Hoffnung, daß niemand meine kränkliche New Yorker Blässe bemerken würde.
Um halb zwölf stieg ich gegenüber vom Hotel in einen Bus, der völlig überfüllt war. Die Luft dampfte, es stank fürchterlich, und alle Fenster waren geschlossen. Niemanden schien das zu stören. Als wir die Plaza Colón erreichten, war ich naßgeschwitzt und leicht benommen.
Ich lief den Berg hinunter zum Gebäude der NEWS , und schon von weitem sah ich den Mob. Einige hielten große Schilder hoch, andere saßen auf dem Bordstein oder lehnten an parkenden Autos und schrien immer wieder den Leuten hinterher, die hinein- oder herausgingen. Ich gab mir Mühe, sie zu ignorieren, aber einer von ihnen verfolgte mich, schrie etwas auf Spanisch und drohte mit seiner Faust. Ich rettete mich in den Fahrstuhl und wollte ihn in der Tür einquetschen, aber er sprang zurück, ehe sie sich schloß.
Als ich über den Flur zur Nachrichtenredaktion ging, hörte ich drinnen jemanden herumbrüllen. Ich öffnete die Tür. Lotterman stand mitten im Raum und fuchtelte mit einem Exemplar von EL DIARIO herum. Er zeigte auf einen kleinen blonden Mann: »Moberg! Verfluchter Saufkopf! Ihre Tage sind gezählt! Wenn irgendwas mit dem
Telex nicht stimmt, zahlen Sie die Reparatur – von Ihrer Abfindung!«
Moberg sagte kein Wort. Er sah so fertig aus, als bräuchte er einen Arzt. Später erfuhr ich, daß er gegen Mitternacht in die Nachrichtenredaktion gekommen war und sturzbetrunken auf das Telexgerät gepinkelt hatte. Erschwerend kam hinzu, daß uns die Konkurrenz mit einer Story über eine Messerstecherei am Hafen zuvorgekommen war. Als zuständiger Polizeireporter hatte Moberg versagt, und Lotterman fluchte immer noch auf ihn. Dann wandte er sich an Sala, der gerade hereingekommen war. »Wo waren Sie gestern Nacht, Sala? Warum haben wir von der Messerstecherei nicht mal ein Foto?«
Sala war überrascht. »Zum Teufel noch mal! Ich hab um acht Schluß gemacht – erwarten Sie, daß ich vierundzwanzig Stunden am Tag arbeite?«
Lotterman murmelte etwas vor sich hin und wandte sich ab. Als er mich bemerkte, winkte er mich in sein Büro.
»Mein Gott!« rief er und setzte sich. »Was ist bloß los mit diesen Pennern? Stehlen sich aus dem Büro, pissen nachts auf teure Apparate und sind ständig besoffen. Ein Wunder, daß ich noch nicht durchgedreht
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