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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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lernen lassen), sie las Fontane, Keller, las sogar Gedichte. Sie verstand, sich beim pflichtgemäßen BDM-Dienst unauffällig im Hintergrund zu halten. Die Luft zwischen der großdeutschen Herrschaftsvilla und dem väterlichen nationalsozialistischen Gärtnerhäuschen schien ihr reineweg nichts anhaben zu können, beispielsweise fand sie die geschniegelte Strammheit der gleichaltrigen Jünglinge gelinde lächerlich, und die Brust-heraus-Heldenbegeisterung der Direktorentochter schien ihr schamlos und dumm. Von ihrer Klavierlehrerin besaß sie – der Name war sorgfältig entfernt – einen Auszug Mendelssohn; sie hütete ihn sorgsam. Worauf sie sich damit letztlich einließ, war ihr zwar nicht klar, daß es aber etwas Verbotenes war, wußte sie. Charakterlich schien sie von der Mutter alles, vom Vater nichts bekommen zu haben; Tante Else nämlich, aus dem Hintergrund her maßgebliches Familienoberhaupt, war mit dem Marschierergeist des Mannes durchaus nicht einverstanden, sie dämpfte seine närrische Führertreue auf stille Weise, wo sie nur konnte. Man darf nicht glauben, daß eine Ehe im Dritten Reich an derlei inneren Widersprüchen hätte zerbrechen müssen – nein, Tante Elses Familienleben verlief harmonisch. Wobei sich versteht, daß ihre Abneigung nicht der Sache galt, sondern deren ›Extremen‹, und natürlich weit davon entfernt war, sich laut oder gar aufbegehrend zu äußern.
    Während dieser drei Sommertage also hinterließ die siebzehnjährige Ilse, eine Dame fast, ihre Spur in dem neunjährigen Peter. Sie tat es, indem sie ihm vorspielte und mit ihrer weichen Altstimme vorsang – am meisten beeindruckte ihn, daß sie dies wie selbstverständlich tat und sich überhaupt |237| nicht zu genieren schien. Sie schenkte ihm den »Sigismund Rüstig«, lesend lagen sie nebeneinander im Gras; der Park aber verwandelte sich in eine unwegsame Insel, Gefahren lauerten ringsum, Abenteuer, er bestand sie alle. Sie spielte seine Knabenspiele mit ihm wie eine Gleichaltrige, sie schlug ihn zum Ritter. Sie entfachte, ohne es zu wollen, allerdings nicht, ohne es schließlich zu bemerken, eine romantische Knabenliebe, die sich auf alle Dinge ihrer Umgebung übertrug. Ohnehin war in der Umgebung dieses Mädchens alles anders, als Peter es von zu Hause her kannte; da war in ihrem Zimmer das Bücherregal mit den Reihen sauber in buntes Papier eingeschlagener Bücher, da waren fein gespitzte Bleistifte, liebevoll zusammengetragen und achtsam aufbewahrt Zeichenpapier, da waren geheimnisvolle Notenblätter, zwischen Buchseiten gepreßte Gräser und Pflanzen, da war eine verzauberte Welt der Stille. Natürlich war Ilse schön, und natürlich träumte er von ihr und natürlich war er von vornherein der edelmütig Verzichtende, zornigen Herzens, versteht sich; ach, wäre er nur ein wenig älter! Und natürlich umarmte sie ihn in seinem Traum dennoch und schwur ihm ewige Liebe, wenn sie auch einen anderen, Ungeliebten, heiraten mußte: den semmelblonden Luftwaffenfähnrich …
    Wie gesagt: Es gelang Peter Loose nicht, eine Brücke von der Stimme Ruth Fischers zur Stimme des Mädchens Ilse zu schlagen. Von dem überschwenglichen Knabengefühl war über die Jahre nur eine unbestimmbare Erinnerung geblieben, ein Schimmer, der im verborgenen glimmte und fortwirkte. Der Mensch hat immer einige Antriebe mehr, als er selber weiß. Und es war wohl auch etwas in Ruth Fischers Art, das ihm den Rückweg sperrte; sie war anders, herber, tätiger.
    So ging er dahin in der Dunkelheit, unter den schwarzen Tannen, die für ihn einfach Wald waren, kein Reh äste am Hang, über die Schonung hoppelte kein Hase. Die Natur bestand darauf, daß eben erst März war; es wurde empfindlich kühl.
    |238| Aber man geht natürlich nicht nur, um ein Ziel zu erreichen; man muß auch unterwegs etwas zu tun haben. Die Finsternis knackt in den Zweigen, ein Schatten raschelt: man wünscht, das Mädchen Ruth stünde da ein paar Meter weiter an der Weggabel im dichten Tannicht, von irgendeinem Schwartenhals belästigt, hilflos; weiß Gott, man hätte seine große Stunde! Es passierte nämlich so manches in dieser Gegend, und ein Mädchen tat gut daran, sich nachts nicht allein aus dem Hause zu wagen! Stand da nicht schon einer? Dort, hinter der Tanne? Es war aber nur ein Reisighaufen, leider. Da kam man sich nun ein bißchen lächerlich vor. Blödsinn, woher kamen nur diese Anwandlungen …
    So über die Maßen lächerlich aber war es nicht. Kurz vor Weihnachten

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