Rummelplatz
jeden Tag einfuhr, und da war nun die Strecke, und da war der Kompressor. Das wird wieder mal ’ne lausige Schicht, dachte er. Ich muß den Ullrich anlernen, diesen Säugling, immer muß man diese Milchbabys anlernen, und der Fischer, der Auskenner, der schickt sie ausgerechnet immer mir auf den Hals. Er wollte den Pickhammer schultern, der am Kompressor lehnte, er griff zu, aber da war kein Pickhammer mehr, und auch der Kompressor wich zurück, es war eine Dunkelheit wie aus Gummi, nur Ullrich konnte er noch erkennen, seinen Halbbruder, und der Kompressor war nun ein ganzes Stück entfernt.
Übrigens war es natürlich kein Kompressor. Es war der Gasbadeofen im vierten Stock der Ruine des Ufa-Palastes. Ullrich war vom heilgebliebenen Treppenhaus auf die schräg nach vorn hängende Decke hinausgetreten, nur dieses Stück Decke hing noch innen im Mauerwerk, und drüben das Stückchen Zimmer mit dem Gasbadeofen und dem Regal mit den gefüllten Einmachgläsern. Daneben gähnte ein riesiges Loch, drei Stockwerke tief, das Haus war in sich zusammengebrochen, Sprengbombe, und nur das Treppenhaus war stehengeblieben mit dem Fahrstuhlschacht, und mit dem schmalen Steg Decke hochoben und der winzigen Zimmerecke. Da tastete sich Ullrich zum Regal hin, an der Mauer entlang, Schutt und Geröll rutschten ab, und gerade als er die Ecke erreichte, gerade als er sich an den Armaturen des Gasbadeofens den letzten Meter hinüberzog, da löste sich der angebrochene Trägerbalken aus dem Mauerwerk, die Decke neigte sich, Ziegelschutt schwappte nach unten, ein verbeultes Zinkwaschbecken, immer tiefer neigte sich die Decke, brach schließlich knirschend aus der Wand und raschelte, knitterte, seufzte, mürbes Holz in einer Staubfontäne, drei Stockwerk tief hinab. Drüben stand Ullrich, klammerte sich an die Armaturen, der Riemen seines Rucksacks zerrte an einem Bleirohr. Ein Dreieck von ein, zwei Metern Seitenlänge, hing der Rest Badezimmer in der Ecke, hing wie das |258| Nest einer Mauerschwalbe, dort stand Ullrich und hatte keinen Weg zurück. Nur der Weg nach oben war noch, zweieinhalb Meter nach oben auf die Mauerkrone und dann auf der schmalen, ausgebrochenen Mauer herüber zum Treppenhaus, links vier Stockwerke tief die Straße, rechts drei Stockwerk tief die niedergebrochenen Trümmer. Und die Dunkelheit kam. Peter stand oben im Treppenhaus, er wollte Ullrich etwas zurufen, er preßte alle Kraft in die Lippen, aber er war von einer steinernen Starre befallen, er war wie gelähmt. Drüben stand Ullrich und konnte sich nicht entschließen. Immer dunkler wurde es, und der Weg über die Mauer wurde von Minute zu Minute ungangbarer. Und wer wußte, ob das Dreieck im Winkel noch lange halten würde?
Da schrie Peter. Du mußt über die Mauer gehen, schrie er, du mußt die Angst überwinden, denn die Angst ist der Tod. Er konnte Ullrich kaum noch erkennen, aber er schrie gegen die Dunkelheit, und er wußte: wenn du abstürzt, dann stürzt du wegen deiner Tatenlosigkeit. Geh den ersten Schritt und du bist gerettet, oder du wirst abstürzen, niemand wird dir eine Träne nachweinen, niemand wird dich vermissen. Und in diesem Augenblick löste sich Ullrich von seinem Halt, stieg auf das Regal, schwang sich auf die Mauer. Tief unten war die Straße, jedes Zögern war Absturz und jeder lockere Ziegel, und ein Wunder war es, wenn er die sicheren Stufen erreichte – und dennoch wußte Peter, daß Ullrich gerettet war. Schritt für Schritt ging er, und erst jetzt, da er unterwegs war, da er sich überwunden hatte, erst jetzt begriff Peter, daß nicht Ullrich über die Mauer ging, sondern er selbst, begriff, daß dies kein Traum war …
Er erwachte gegen sechs Uhr morgens. Im ersten Augenblick wußte er nicht, wo er war. Er starrte in die Dunkelheit, die Wirklichkeit kehrte nur langsam zurück. Vor dem Fenster, das keine Gardinen hatte, standen ein paar Sterne.
Draußen, vor dem Fenster, waren die Geräusche der Stadt. Die Geräusche des Sonntagmorgens, in denen die Schritte |259| der Leute fehlten, die zur Arbeit gingen, das Schlagen der Haustüren und das Hupen der ersten Autos. Im Hinterhof fehlten die Geräusche der Schlosserwerkstatt, das Zischen der Schneidbrenner und der Hammerschlag, das Surren der Bohrmaschine und das hastige Hin und Her der Shaping. Auch das dumpfe Vibrieren in den Mauern war nicht da, das an den Wochentagen frühmorgens einsetzte und spätabends endete, und von der Wäschemangel heraufdrang, die im Nachbarhaus
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