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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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stand. Es war die seltsame Sonntagsstille, die in den Schlaf aller Leute eindringt, die hier wohnen, und sie spüren läßt, daß heute ein besonderer Tag ist; die Stille, in der sich bereits vor dem Erwachen der Feiertag ankündigt.
    Peter starrte an die Decke, er konnte nicht wieder einschlafen. Dieses Stilliegen am Morgen hatte ihn immer mit freudiger Erwartung erfüllt: vor ihm lag der Tag mit seinen Hoffnungen, seinen Begegnungen, und vielleicht geschah gerade heute das große Erlebnis, das namenlose Abenteuer, das alles von Grund auf ändern würde. Er hatte nie gewußt, worin dies Abenteuer bestehen könne, aber er hatte immer darauf gewartet, und er wußte, daß es ganz bestimmt eines Tages kommen mußte.
    Solch einen Morgen hatte es lange nicht gegeben. Oben in den Bergen war er nie so erwacht. Dieses Gefühl gehörte zur Stadt, zu ihrer Atmosphäre, und es gab nur eine einzige Möglichkeit, außerhalb der Stadt etwas Ähnliches zu empfinden, das war, wenn er unterwegs war zu einem Ziel, das er noch nicht kannte.
    Er wußte nun auch, was er mit diesem Tag beginnen würde. Er würde hinuntergehen, würde frühstücken von dem, was er mitgebracht hatte, er würde Kahlert einen guten Morgen wünschen, das war alles. Der Mutter würde er einen Hundertmarkschein geben für das Kind, und sie wird ihn nehmen und stolz sein auf ihren Sohn, der zurechtkommt in der Welt und so viel Geld verdient. Dann wird er alles getan haben, was zu tun ist. Der Tag lag vor ihm, und die Stadt wartete, er |260| konnte gehen, wohin er wollte. Er würde zum Schloßteich gehen und alle treffen, die er kannte, er würde nach Siegmar hinausfahren und in der Wismutküche essen, für den Nachmittag hatte er die Innenstadt und die Straßenbahnen und die schmalen Wege an der Kaßbergauffahrt und die kleine Kneipe hinter der Markthalle; den Gasthof Neustadt und die »Libelle« hatte er für den Abend, und dann hatte er noch die ganze Nacht.
    Es war nun hell genug, und er ging zu dem kleinen Spiegel am Schrank, vor dem sich Traudel immer gekämmt hatte. Dann zog er sich an und öffnete das Fenster. Außen auf dem Fenstersims standen leere Blumentöpfe, und ihm fiel ein, daß die Schwester immer das ganze Bord voller Topfpflanzen gehabt hatte. Sicher hatte sie auch jetzt wieder eine Menge davon.
    Über der Stadt hing noch der Frühdunst, aber in der Nähe war schon alles klar. Über den Dächern standen die Schornsteine des Elektrizitätswerkes, und weiter hinten war der stumpfe Turm der Schloßkirche. Warum ist eigentlich all das in uns, dachte er. Die Farbe der Steine in der gegenüberliegenden Hauswand und der Geruch vom Löwenzahn, der vor Jahren schon verblüht ist, unten, an der Wand von Schmidtschlossers Werkstatt? Er sah, wie drüben im Eckhaus ein Rolladen hochgezogen wurde; in einem der unteren Fenster sah er Bierflaschen stehen, mit geöffnetem Verschluß, und im Zimmer daneben bügelte eins der beiden Mädchen, die im Lebensmittelkonsum arbeiteten, nur mit einem Unterrock bekleidet eine Bluse oder ein Kleid oder sonstwas Helles. Er sah den Frühaufsteher Pfennigweiss um die Ecke biegen, mit seinem Tirolerhütchen und dem dünnen Spazierstock, unter dem Ladenschild der Drogerie blieb er eine Weile stehen wie eh und je; er sah weiter die Straße hinab einen einsamen Radfahrer, der einem parkenden Auto auswich, und er wußte, daß er all das nie vergessen würde. Er spürte den Atem der Menschen und der Dinge, spürte das lebendige |261| Herz dieser Stadt, er spürte, daß jeder und jedes sein eigenes Leben führte und daß doch alle Leben miteinander verbunden und ineinander verwoben waren, und daß dieses Leben sich letztendlich von sich selbst nährt.
    Warum ist das alles in uns, dachte er. Warum?

|262| X. Kapitel
    Die Meteorologen sprachen von einer Schlechtwetterfront: Dem ausgedehnten Azorenhoch, das bis gestern das Wetter in ganz Mitteleuropa bestimmte, folgt ein Tiefdrucksystem, dessen Kern über den Britischen Inseln lagert. An seiner Vorderflanke verläuft eine Störungslinie, die bereits seit den frühen Morgenstunden Nord- und Westdeutschland beeinflußt. Die Deutsche Seewetterwarte Hamburg gab Sturmwarnung. Das Wetteramt Essen-Mülheim kündigte auch für das Binnenland Stürme an.
    Der Rhein kroch in eine Gänsehaut. Irene Hollenkamp stand am Fenster, blätterte in einem Notenstapel, Georg Philipp Telemann, Suiten. Die Lampe neben dem Flügel schien nur mit halber Kraft zu leuchten, ach was leuchten, sie glimmte

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