Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
Vom Netzwerk:
hoffnungslos gegen die Dämmerung an. Und das am frühen Morgen. Ein Trost nur, daß Sonntag ist: Irene kann die Sonntage seit einiger Zeit nicht mehr ausstehen.
    Das Wetter war wie gemacht für ihre Stimmung. Martin war nach London geflogen, zur Verlobung seiner Schwester, vor drei Wochen schon. Er hätte längst zurück sein müssen. Statt seiner war eine Karte gekommen: Mein angehender Schwager hat mich nach Newcastle eingeladen, das mit dem Kreuz ist das Haus. Sein Vater ist Landarzt hier. Herzliche Grüße. Und kein persönliches Wort, auch zwischen den Zeilen nichts.
    Worauf hatte sie denn gehofft? Damals, als sie aus den Bergen kamen, hatte sie geglaubt, alles in den Händen zu halten, alles bestehen zu können. Das also ist das Glück. Nun muß sich alles, alles wenden. Hatte es auch dann noch geglaubt, als Martin sich schon wieder hineingestürzt hatte in diese seine Welt, seinen rätselhaften Alltag, der für sie immer nur |263| Minuten übrigließ, eine flüchtige Berührung, manchmal wochenlang nicht einmal das. Und hoffte auch jetzt noch. Aber inzwischen war jener Abend gewesen, auf den langen Parkwegen draußen, immer im Kreise, immer vorüber an Barlachs schlichter Louise Dumont. Erster warmer Abend des Jahres – dann diese Kälte. Es wird nicht so bleiben, Irene. Wir wissen es doch beide, haben es immer gewußt.
    Woher kam das alles? Nur von diesem Mißerfolg? Er hatte eine Artikelserie geschrieben, über den neuen Staat am Rhein und seine Politik, die von Leuten gemacht wurde, welche durchaus nicht immer so frei von brauner Vergangenheit waren, wie man jenseits des Kanals zu glauben schien. Aber der »Guardian« hatte nur den ersten seiner zehn Artikel gebracht. Der englische Zeitungsleser hatte genug Sorgen, er brauchte nicht auch noch dies. Überdies: standen nicht britische Soldaten in diesem Land, um auf die Besiegten aufzupassen? Und sorgten nicht die Bevollmächtigten Ihrer Majestät, gewissenhafte Beamte, für neuen Geist und neue Ordnung zwischen Ostsee und Alpen? Na also. Die wahre Gefahr befand sich weiter ostwärts, dies muß begriffen werden. Ja, er hatte gearbeitet, eine unglückliche Arbeit, und ferner: der Mensch kann nicht von unbezahlten Artikeln leben. So nahm er eine Stelle an, »Westfälische Allgemeine«, ein einflußloses Blatt. Was hatte sie getan indessen? Sie hatte auf das Glück vertraut. Bemerkte auch nicht, worin sein Unglück bestand. Daß etwas nicht gedruckt wird, kann schließlich jedem passieren. Aber sie sah sich nun vor der Auswirkung. Die Glücklichen kommen durch die Unglücklichen ins Unglück.
    Manchmal sah sie es selbst: Aus dem Allgäu herab war die Welt friedfertig erschienen und rosig. Und was hätte sie denn tun können? Etwa ihre Koffer packen und zu ihm ziehn? Sogar dieser Gedanke war einmal dagewesen. Es war unmöglich, das sah sie ein, und sie hatte sich zugeredet: Es würde ja auch nichts ändern.
    |264| Und im Hintergrund lenkte Marie-Luise unmerklich die Geschicke. Es hatte zwischen ihr und Hollenkamp eines Tages ein Gespräch gegeben. Zwischen Irene und diesem Lewin ist etwas, wir müssen etwas tun, Theo. Er wußte längst, daß da etwas war, wußte auch die Geschichte von der Hütte, hatte sie per Zufall erfahren. Vor Marie-Luise hatte er sie verschwiegen, nahm sie auch selbst nicht allzu ernst, obschon ihn seine stille Irene darin überrascht hatte: ihr gegenüber begnügte er sich mit humorigen Anspielungen. Nun ja, sie hat nun einmal diesen romantischen Einschlag, ihre Mutter hatte das auch. Aber es herrschte heute eine reichlich andere Zeit, Irene würde das schnell spüren, kein Grund also zur Besorgnis. Marie-Luise aber, obwohl sie weniger wußte, oder vielleicht gerade deshalb, nahm die Dinge ernster. Irene ist ja noch ein halbes Kind, außerdem fällt sie auf jeden Schwindel herein, sie ist zu gutgläubig. So bemühte sich Marie-Luise, junge Leute ins Haus zu ziehen. Und obschon sie dabei ein wenig steif und altmodisch verfuhr – junge Leute haben nun mal andere Formen –, erreichte sie doch, daß Irene, unbewußt noch, Vergleiche anzustellen begann.
    Da war beispielsweise Gerda Conradi, Tochter des Oberbürgermeisters, verlobt mit dem jungen Orgas, aufgehender Tennisstern, außerdem eine gute Firma, die Orgas-Werke. Vera Spremberger, eine von den drei Töchtern des Kaufhaus-Sprembergers, die beiden älteren waren bereits verheiratet, brachte Fred von Cramm mit, den Filmschauspieler. Überdies kontrollierten die Cramms neben der

Weitere Kostenlose Bücher