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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Unglück aber auch, und ausgerechnet in den paar Ferienwochen … Als es dunkel wurde, fand er sich vor dem Hauptbahnhof. Ein Zug nach Zwickau fuhr um einundzwanzig Uhr. Von Zwickau kam man dann schon weiter.
    Christian ging und kaufte sich eine Fahrkarte.
     
    Am Montag, als er einfahren wollte, wurde Christian zum Schachtleiter gerufen. Der deutsche Schachtleiterhelfer fing ihn an der Hängebank ab und sagte: »Haste was ausgefressen?« |327| Christian war sich keiner Schuld bewußt. Dennoch durchwühlte er sein Gedächtnis, als er über den Hof ging und die Treppe hinauf, fieberhaft, was konnte es sein? Er war noch nie beim Schachtleiter gewesen. Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen würst. Gerüchte liefen um. Zwangsverpflichtung nach Sibirien, in den Donbas, in die Taiga. Christian hatte nie etwas auf das Gerede gegeben; die da redeten, waren leicht zu erkennen als die Dümmsten im Schacht, die ewigen Meckerer, die Schleimer und Arschkriecher. Aber wenn es nun doch wahr wäre? Alles Böse kommt von oben, bei den Germanen und überall auf der Welt. Aber warum ausgerechnet er? Vielleicht eine Versetzung in einen anderen Schacht? Das gab es oft. Aber dann wurden doch immer ganze Brigaden umgesetzt, manchmal ganze Reviere.
    Polotnikow stand hinter dem Schreibtisch, in Zivil, schien auf eine Anrede zu warten. »Ich soll mich melden«, sagte Christian, nannte seinen Namen und die Reviernummer. Melden, da war es wieder, das verhaßte Wort. Polotnikow nickte.
    »Sie machen Jugendbrigade?«
    Nein, wollte Christian sagen. Er sagte: »Ja …«
    »Im dritten Revier wird ein Streckenanschluß an den Schacht Roter Stern gefahren. Sie wissen Bescheid?«
    »Nichts Genaues.«
    »Nu gut. Die Geologen haben Wasser festgestellt. Wir müssen eine Umgehung fahren. Die alte Strecke bleibt zur Entwässerung. Aber es muß schnell gehen. Drei Wochen. Wollen Sie das machen?«
    Christian verfluchte den Steiger. Fischer mußte hinter seinem Rücken eine Brigade nach oben gemeldet haben, die es noch gar nicht gab. Man mußte das dem Schachtleiter erklären. Christian sagte: »Aber es ist …«
    »Kein Aber. Entweder Sie machen – oder Sie machen nicht.«
    Nein, wollte Christian wieder sagen. Ich kann doch gar nicht. Aber er sagte. »Ja.«
    |328| »Gut. Sie bekommen den Überkopflader. Der Revierleiter weiß Bescheid. Falls Sie umdritteln müssen, gehen Sie zum Genossen Fischer. Wenn Sie Schwierigkeiten haben – auch zum Genossen Fischer. Ist sonst noch etwas?«
    Auf der Treppe fand Christian sich wieder, Wasser. Seit Wochen wurde über einen unterirdischen See gemunkelt, der irgendwo am Fuße des Rabenberges liegen sollte, unter der Christkindleinkapelle. Zum Teufel mit dem See! Er hatte sich als Brigadier ausgegeben und hatte keine Brigade; hatte Befehle entgegengenommen, großkotzig wie ein kleiner Heerführer, hatte bloß keine Mannschaft. Was nun, Kleinschmidt? Jetzt haben sie dich, haargenau dort, wo sie dich hinhaben wollten, Fischer, Polotnikow, Mehlhorn, Drushwili. Es geht einer über den Hof und grölt. Die blauen Dragoner, sie reiten … Den kennen wir doch, Bierjesus, mit klingendem Spiel durch das Tor. Wenn Sie Schwierigkeiten haben – zum Genossen Fischer. Entweder Sie machen – oder Sie machen nicht. Ja, wie denn, zum Teufel?
    Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen, das kann auch nur dir passieren, Kleinschmidt, was nun?

|329| XII. Kapitel
    Irene Hollenkamp erwachte um sieben Uhr. Sie erwachte immer um sieben Uhr, und fast immer war sie sofort hellwach. Der Tag stand schon hoch, die Sonne steckte einen langen Finger durch den Vorhangschlitz, und durch den Fensterspalt kamen die Geräusche des Sommermorgens. Das ferne Rauschen der Stadt, das dünne Rattern des Morgenschnellzuges drüben über der Brücke, das Geplätscher des Badewassers nebenan in Hollenkamps Badezimmer. Es war ein guter Morgen, und es war gut, so zu erwachen.
    Sie stand auf und schob die Decke ans Fußende des Bettes. Von draußen kam jetzt ein Geräusch, das wie der zischende Aufprall eines scharfen Wasserstrahls klang, wenn er eine glatte Fläche im flachen Winkel trifft. Es kam von unten herauf, und als Irene die Vorhänge zurückschlug, sah sie, daß der Gärtner den Wagen abspritzte.
    Sofort wußte sie, daß sie versprochen hatte, ihren Vater nach Bonn zu bringen. Sie freute sich auf die Fahrt. Sie fuhr gern mit ihm, und gerade jetzt, da er das Reißen in der Schulter hatte und sich nicht ans Steuer traute, gab

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