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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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der Maschine erklärt hatte: Die Tangente berührt den Kreis nur in einem Punkt.
    Es blieb auch während der nächsten Tage so. Ruth ging meist nach dem Frühstück auf Entdeckungen aus, fast immer allein, kam manchmal nicht zum Mittagessen, immer aber kam sie am Nachmittag, wenn es den Kaffee gab und diese seltsamen Marmeladenhörnchen, die sie hier buken. Sie erzählte dann, was sie erlebt und gesehen hatte, die Insel schien auf einmal voll von Geheimnissen und Abenteuern, von niegesehenen Dingen und Begebenheiten, alles hatte darauf gewartet, von ihr entdeckt zu werden. Sie konnte mit der |360| Freude und dem Entzücken eines Kindes erzählen, und mit einer Lebhaftigkeit der Wahrnehmung, die Nickel immer wieder erstaunte. Einmal hatte sie in dem Kiefernwäldchen an der Südküste der Insel Pilze gefunden, Maronen, die brachte sie mit und legte sie auf den Kaffeetisch. Sie sah Nickel und Häring triumphierend an und sagte: »Also was sagt ihr nun? Soolche Pilze haben sie hier!« Sie deutete mit den Händen eine unglaubliche Größe an. »Ich habe immer gedacht, wir haben die Wälder und die Berge und die Pilze, und sie haben dafür das Meer. Aber sie haben Wälder und Pilze, und das Meer haben sie extra noch!« Das schien ihr ganz unfaßbar.
    Ein andermal hatte sie vor einem der zwei, drei kleinen Kaufläden des Dorfes eine lange Menschenschlange entdeckt. »Es waren mindestens fünfzig«, behauptete sie. »Und das tollste war: es standen da auch Männer. Also ihr werdet es nicht glauben: es waren mindestens genau so viele Männer wie Frauen. Ich habe mich auch mit angestellt, aber man kann sie so schwer verstehen, wenn sie sich unterhalten.« Nickel und Häring warteten nun neugierig auf den Fortgang der Geschichte – aber für Ruth schien sich die Sache erledigt zu haben. Häring fragte schließlich: »Wonach haben sie denn nun angestanden?« Ruth sah erstaunt auf. »Ach«, sagte sie, »nach Milchkannen.«
    Eine Quelle der Entdeckungen waren ihr auch die Gäste des zweiten Ferienheimes der Insel; es lag eine halbe Stunde von ihnen entfernt. Das Haus gehörte dem Kulturministerium und wurde vorzugsweise von Malern, Schauspielern, Musikern und Schriftstellern bevölkert. Ruth war dort kurzerhand eingedrungen, offenbar war auch niemand auf die Idee gekommen, sie zu fragen, mit welchem Recht sie da ein und aus gehe, wie es ihr beliebt. Von den Bewohnern dieses Heimes sprach sie im Tone eines amüsierten Bescheidwissens, manchmal aber auch recht aufgebracht. Von einem bekannten Schauspieler, den sie in zwei Filmen gesehen hatte, sagte sie: »Also |361| der Kerl macht mich krank mit seinem Getue! Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Den ganzen Tag trinkt er Selterwasser – aber wehe, wenn es ein bißchen zu kalt ist. Dann muß die Kellnerin es wieder mitnehmen, denn er hat es mit dem Magen. Und wenn es Schweinefleisch gibt, muß für ihn extra gekocht werden, denn er hat es mit dem Herzen. Er hat es auch mit der Leber und mit der Galle, und im Zimmer muß er eine Sonnenbrille tragen, denn er hat es mit dem Sehnerv. Also das könnt ihr euch gar nicht vorstellen: mit dem Sehnerv!« Sie hatte den Schauspieler in zwei ausgesprochen jugendlichen und kämpferischen Rollen gesehen und war nun ehrlich entrüstet.
    Mit einem von den Künstlern aber hatte sie sich angefreundet, einem Maler namens Bauerfeldt. Von ihm sagte sie, als sie ihn kaum zwei Stunden kannte, mit dem Ton der tiefsten Überzeugung: »Also das ist ein ganz prächtiger Mensch!« Sie sagte das so gewinnend freimütig und überzeugend, daß alle gleich Sympathien faßten für diesen Maler Bauerfeldt. »Er macht Illustrationen für Kinderbücher«, sagte sie, »und Genosse ist er seit 1928.« Das sagte sie so, als müsse damit nun endgültig klar sein, was für ein prächtiger Mensch das sei, und als sei damit jeder etwaige Zweifel endgültig widerlegt.
    Eines Tages brachte sie ihn mit ins Heim an ihren Kaffeetisch. Der Maler Bauerfeldt sah wenig nach Künstler aus. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, trug eine schlecht gebügelte Hose und ein offenes Sporthemd, wie die meisten Männer hier trugen, und er setzte sich ganz einfach an ihren Tisch, als gehöre er seit langem dazu. Das einzige Auffallende an ihm war sein seltsam zerknittertes Gesicht.
    Nach fünf Minuten hatte er sie in ein Gespräch über Papierqualitäten und Kartonoberflächen verwickelt – sie hatten das Gefühl, als sprächen sie mit einem ihrer Branche. Besonders Häring war von dem

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