Rummelplatz
Belustigung der Urlauber unter Glas |355| gerahmt in der Eingangshalle. Die Küstrin hatten, wie der Heimleiter erklärte, westlich der Elbe keinen Grundbesitz – aber sie waren Besitzer dicker Aktienpakete; die Arbeiter von Siemens und Bosch, von Daimler-Benz und Phoenix-Rheinrohr, von der DCG und den Farbwerken Hoechst sorgten für ihre Dividende; solche Leute fallen selten tief.
Ruth hatte ein Einzelzimmer bekommen, mit dem Blick auf den Park, auf zwei Fischerhütten hinter der Mauer und ein Stück Strand, auf ein paar Reusen und einen Ruderkahn, der weit ans Ufer gezogen war. In der ersten Nacht hatte sie bis hoch in den Morgen hinein geschlafen. Häring war gekommen und hatte sie geweckt. Die anderen hatten im Speisesaal auf sie gewartet. Ruth saß mit Nickel und den beiden Härings am gleichen Tisch.
Nach dem Frühstück war sie gegangen, die Insel in Besitz zu nehmen. Das Heim lag an der östlichen Spitze, unweit des Leuchtturmes; Ruth, ihrem Gefühl trauend, hatte gedacht, die Insel in anderthalb bis zwei Stunden durchqueren zu können. Aber der erste Eindruck bei der Landung hatte getrogen – Ruth war die zweite Stunde unterwegs, an Wiesenstücken entlang, auf denen bunte Rinderherden weideten, nur selten eine Koppel. Kleine abgeerntete Ackerstreifen, ein paar Haferähren auf dem Weg, hier und da ein niedriges Gehöft, eine Baumgruppe – aber statt des Westufers erreichte Ruth nun eine binsenbestandene Bucht, und als sie auf die Landzunge hinausging, sah sie, daß sich die Insel von hier aus noch genausoweit nach Westen streckte wie zurück zum Leuchtturm.
Die Sonne stand hoch, es war warm geworden. Hohe Wölkchen trieben über die Ostsee; der Wind war kaum zu spüren. Es war ein Tag, wie man ihn vom Herbst nicht erwartet: still, blau, sommerlich. Ruth kaute einen Strandhaferhalm, sie bückte sich, streckte die Hand ins Wasser, das leise über die großen Steine am Ufer hüpfte. Schade, daß sie den Badeanzug nicht mitgenommen hatte. Nickel hatte |356| gemeint: Wenn das Wetter so bleibt, wird man nachmittags einen Sprung riskieren können. Fünfzehn, sechzehn Grad – das reicht. Sie ging ein Stück die Böschung hinan, zog ihre Strickjacke aus, setzte sich.
Das Ufer war sehr still; links die Bucht mit den Binsen, landeinwärts die niedrigen Büsche und nach rechts hin die abfallende Böschung mit ihrem sehr weißen Sand und dem Geruch des Meeres, den Geräuschen der Brandung, menschenleer. Jemand, der von dort käme, müßte weithin zu sehen sein. Und wenn schon. Ruth spürte die Sonne auf der Haut, sie atmete die Weite und Sauberkeit dieses Tages, sie war ausgelassen und glücklich. Die Kleider legte sie zwischen die großen Steine, lief zum Ufer. Das Wasser war kalt und klar wie ein Gebirgsbach. Sie spritzte sich rasch ab, schwamm in kurzen, schnellen Zügen. Die Kälte griff ans Herz, legte sich wie ein eisiger Ring um die Glieder. Ruth schwamm, bis ihr der Atem ausging. Dann wurde ihr wärmer.
Sie gewöhnte sich an die Temperatur, legte sich auf den Rücken, ließ sich treiben. Sie tauchte ein in den Himmel über sich, trieb mit den Wolken über Länder und Meere, trieb die Strömung hinab in der Umarmung ferner Küsten, bunter Häfen, schmeckte den Geschmack von Salz und Tang und Fischen, und als sie erwachte, war rings noch immer die See und der Wind bis fern hin an die große Erzählung des Ozeans.
Sie schwamm weiter hinaus, schräg vom Ufer ab, mit weiten, kräftigen Zügen. Der Horizont ist niedrig, zwei Handbreit über dem Wasser; das Meer ging sehr nah schon in den Himmel über. Sie tauchte unter und sah in die See hinab, in das Blau, das nun gelblich war und im Licht zerfloß, einem tiefen Braun zu. Sie tauchte erneut, tauchte sehr weit hinab und sah dann aufwärts in die Helligkeit über sich, die hellgrüne Helligkeit, von unzähligen winzigen Pünktchen belebt und den Schatten der Fische, sie schwamm hinab, so tief sie konnte, mitten im träg treibenden Plankton, aber die Heringsschwärme, die in den Algen äsen, fand sie nicht – und |357| wahrscheinlich gab es hier auch keine. Sie schwamm sich atemlos, und als sie auftauchte, war ihr, als sei die Luft, die sich in die Lungen stürzte, der kostbarste Stoff, der sich denken ließ.
Sie war ziemlich weit vom Ufer abgekommen und wendete. Sie war müde und schwamm langsamer, nach und nach aber lockerten sich die Muskeln, und die Kraft kehrte zurück. Sie griff wieder weit aus. Da sah sie, daß jemand am Ufer stand.
Es waren zwei
Weitere Kostenlose Bücher