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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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privaten Sektor erweitern, wir brauchen Entwicklungshilfe für die Unternehmer, wir brauchen keine Planwirtschaft, sondern mehr Arbeitskräfte, mehr Material, niedrigere Steuern und großzügigere Unterstützung für die Privatbetriebe … Und diese Arschkriecher vom Schlage eines Lippmann versuchen noch freundlich zu beschwichtigen. Und wenn man die Arschkriecher Arschkriecher nennt, dann …
    Ja, so ein Jahr war das, das Jahr neunundvierzig. Und nun haben wir wieder mal ein neues. Was wird es bringen? Im Juli den Dritten Parteitag und vorher das Deutschlandtreffen der Jugend, soviel steht fest. Aber sonst? Was wird mit dem Saargebiet? Werden sie es wirklich verschachern? Und was geschieht in Jugoslawien? Was in Korea? In Vietnam? Die ganze Welt ist in Bewegung, und das Gespenst geht nicht mehr nur in Europa um. So, und das war ein ganz reales Auto! Wie, zum Teufel, komme ich denn mitten auf die Straße?
    |188| Tatsächlich, er hatte das Rosenthal durchquert, er war auf die Straße geraten, die hier keinen Fußsteig hatte; ein hochkarossiger Opel P4 entschwand mit rauchendem Holzvergaser in der Biegung und ließ dicht vor seinen Füßen eine Schneekettenspur zurück. Von den Kirchtürmen der Stadt läuteten seit einer Weile die Mittagsglocken; er vernahm sie erst jetzt.
    Zacharias sah sich um. Sieh mal an, das Haus gegenüber kannte er. Es war ein sehr schönes Haus, inmitten eines großen Gartens, eine Villa fast, für ein oder zwei Familien; aber jetzt wohnten wohl einige Leute mehr darin, an dem schmiedeeisernen Gartentor hing ein Briefkasten mit vier oder fünf Namensschildern. Es war schon ein bißchen merkwürdig, daß er ausgerechnet in diese Richtung gegangen war. Oder war es purer Zufall?
    Jedenfalls stand er vor dem Haus; das Rosenthal hinter sich und den Zoo mit dem Gebrüll der Löwen – wurden sie nicht um diese Zeit gerade gefüttert? – Er stand vor der Doppelspur, die der Opel zurückgelassen hatte, die Luft trug noch einen Nachgeschmack von der Beize des Holzgasentwicklers, und die Mittagsglocken läuteten; er sah hinauf zu den Rauchfäden, die schnurgerade über den beiden Schornsteinen in den Himmel drieselten. Und der Rauch über dem Haus erinnerte ihn, der hier im Schnee stand, an angenehme Zimmer und Wärme, erinnerte ihn an das Kotelett, zu Hause, in der Kasserolle auf dem Fensterbrett, auf den Fingernagel genau einhundert Gramm. Sicher hatte Frau Haustein schon Kartoffeln geschält, heute war ja Feiertag. Ob der Professor jetzt auch am Mittagstisch saß? Solche Leute sind ja meist pedantisch, und den Glocken nach war es genau Mittag. Aber der Professor wohl nicht, der war eher ein bißchen nachlässig. Eigentlich schade, daß man ihn nicht näher kennt …
    Und er drehte sich um und ging durch das Rosenthal zurück langsam nach Hause. Ja, nach Hause.
     
    |189| Professor Kleinschmidt saß in der Tat am Mittagstisch; der war weiß gedeckt, zur Feier des Tages, für gewöhnlich begnügte man sich mit einer geblümten Wachstuchdecke aus dem Besitz der Frau Selle. Heute aber war ein besonderer Tag – nicht nur des Neujahres wegen. Christian war gekommen, obwohl er erst über die Weihnachtsfeiertage Urlaub gehabt hatte. Er hatte seine Schicht mit einem anderen getauscht. Frau Selle hatte vom Weihnachtsbesuch bei ihrem Bruder, der im Thüringischen eine kleine Wirtschaft betrieb, eine Ente mitgebracht. Sie lag bäuchlings in der Pfanne, mit Beifuß und Äpfeln gefüllt, der Bratenduft kroch aus der Küche in den Vorsaal, in Kleinschmidts Wohnzimmer, es roch nach heißem Fett, nach knusprigem Fleisch, nach Kräutern und Gewürzen. Obendrein war von Marie-Luise, oder genauer von der Nichte Irene, ein Festpaket angekommen. Kleinschmidt war anfangs nicht sehr erbaut davon gewesen, der Briefwechsel mit Marie-Luise war seit vielen Jahren nur sehr gelegentlicher Natur. Aber als er schließlich doch die Verpackung geöffnet hatte und die schöne Sammlung der »Epistolae virorum obscurorum« entdeckte, die Hogarth-Stiche, den Kaffee und die Zigarren – bei einigem Nachdenken ließ sich bezeichnenderweise genau herausfinden, wer von den Hollenkamps welchen Beitrag beigesteuert hatte –, da steigerte auch dieses Paket Kleinschmidts freundliche Stimmung. Viele Umstände kamen zusammen; es war, als hätten alle etwas geahnt …
    Nämlich: Professor Reinhardt Kleinschmidt war in den Hochschuldienst zurückberufen worden. Drei Tage vor Jahreswechsel. Im Januar dieses Jahres 1950 würde er zum ersten Mal nach

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