Rummelplatz
und die Lohntüte der anderen. Ich muß heraus hier, heraus, so schnell, wie es geht.
Aber wie herauskommen, wenn selbst Oberlehrer und alte Studienräte blieben, weil sie nicht wußten wohin? Wie herauskommen, wenn man sich für zwei Jahre verpflichtet hatte? Ja, es gab einen Weg. Man brauchte nur Fehlschichten zu fahren, einfach nicht mehr zum Schacht zu gehen – dann flog man ganz automatisch. Aber das wäre Kapitulation. Die anderen hätten recht. Es wäre Wasser auf ihre Gebetsmühle: Wer sich in der Praxis nicht durchsetzen kann, für den ist ein Studienplatz zu schade. Wer garantiert uns, daß Sie nicht auch da versagen? – Nein, dieser Weg war kein Weg, war nicht sein Weg. Er mußte durchhalten …
Und so fuhr er wieder ein, jeden Tag, klemmte sich hinter den Bohrhammer, bohrte seine Scheibe ab. Ein Lieblingsspruch seines Vaters fiel ihm ein: Nur Beharrung führt zum Ziel, nur die Fülle führt zur Klarheit – und im Abgrund wohnt die Wahrheit. Die letzte Zeile schien geradezu für den Schacht gemacht. Aber welche Wahrheit sollte hier wohnen? Wo war die Fülle, die zur Klarheit führt? Der alte Schiller hatte gut Sprüche machen, zu ebener Erde. Und was den Vater betraf: der hatte seine Weisheiten auch besser gepredigt als beherzigt.
So haderte Christian mit seinem Schicksal. Das Leben verteilte die Wohltaten spärlich und planlos; wer schon hatte, bekam noch dazu, wer nichts hatte, ging auch weiterhin leer aus. Bermsthal aber war ein Ort, der von allen guten Geistern verlassen war; hier besaß jeder nur sich selbst, und geschenkt wurde keinem. Von wem auch. Die Besiegten waren arm, die Sieger, scheint’s, noch ärmer. So waren sie von Gott und der |209| Welt verlassen – und Christian Kleinschmidt war der Verlassensten einer. Ja, dachte er, das ist meine Lage. Zum Durchhalten zu wenig und zum Aufgeben zu viel.
Aber er blieb.
|210| VIII. Kapitel
Wenn sich der Mensch in Bewegung befindet, so ersinnt er sich ein Ziel. Mitten in der Schlacht denkt er an den Sieg; selbst auf dem Rückzug aus den Schneewüsten Rußlands, die Verfolger im Nacken, denkt er an den Sommer, denn nichts ist härter als der Krieg im Winter; wie durch ein Wunder heimgekehrt in sein zerstörtes Land, unter Trümmern überlebend und hungrig, baut er in seinen Gedanken die künftigen Städte, füllt sie mit Farben, mit den Gerüchen von Blumen und Speisen, mit der Musik kommender Feste. Er kann die dreißig Kilometer in die Nachbarstadt nicht gehen ohne das Gefühl, dort erwartet zu werden, den Gedanken, etwas vollbringen zu müssen oder etwas zu versäumen. Noch weniger kann er durch ganze Jahre und Jahrzehnte gehen ohne Erwartung, ohne Aussicht, etwas zu erreichen oder an Erreichbarem teilzunehmen.
Für Nickel war das allgemeine Ziel, an das er glaubte, etwas so Großes und Heiliges, daß er nicht anders daran denken und davon träumen konnte als in überschwenglich-pathetischen Bildern und Wendungen. Vielleicht lag das daran, daß er sich diesem neuen Ziel aus jener tiefen persönlichen und nationalen Ausweglosigkeit heraus zu hastig zugewendet hatte, gleichsam von einem glänzenden Apfel, der sich beim Essen als faulig erwiesen hatte, zu einem glänzenden andern; vielleicht war es auch nur jener besonders stark entwickelte Zug seines Charakters, der ihn immer wieder unbewußt auf Anpassung und Einordnung in ein Größeres bedacht sein ließ. Jedenfalls verfolgte er dies Neue mit einer Ausschließlichkeit, die ihm manchen in sich widersprüchlichen Gedankengang von vornherein verschloß; und er übertrug diese Ausschließlichkeit, die sich so gut mit dem |211| ihm eignen Respekt vor großen Worten und großen Gesten vertrug, auch in den Bereich seines sozusagen persönlichen Ziels, das er hier in Bermsthal zu erreichen hatte. Dabei hätte er gerade dazu und in gerade diesem Frühjahr neunzehnhundertfünfzig einen besonders nüchternen Kopf gebraucht.
Er war Personalleiter geworden, aber das ›Personal‹, die Arbeiter, Ingenieure, die kaufmännischen Angestellten und die Funktionäre, hatte er nicht kennengelernt, jedenfalls noch nicht in dem umfassenden Sinne, die seiner Stellung entsprochen hätte. Er war Personalleiter einer Papierfabrik, aber die Struktur dieses Betriebes, die Technologie der Produktion waren ihm noch nicht vertraut, er wußte nicht, was von diesem und jenem Arbeiter, von diesem und jenem Maschinenführer abhing, demzufolge war er oft nicht weit davon entfernt, durch eine unbedachte Entscheidung Sand ins
Weitere Kostenlose Bücher