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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Getriebe dieses empfindsamen Mechanismus zu streuen – also genau das zu tun, was er um jeden Preis verhindern wollte. Viele der Stammarbeiter nahmen Nickel nicht recht ernst, auch die meisten der leitenden Funktionäre nicht; ihrer Meinung nach war er für diese verantwortungsvolle Aufgabe entschieden zu jung; was konnte so ein Grünschnabel schon für einen Personalchef abgeben? Außerdem mußte man in der Papiermacherei von der Pike auf gedient haben, um mitreden zu können; dieser junge Spund aber war ja nicht einmal gegautscht, ja, er hätte im Ernstfalle kaum für den Siebjungen einspringen können! Nickels Unsicherheit, seine Unbeholfenheit schienen ihnen recht zu geben.
    Vorläufig bestand seine Tätigkeit hauptsächlich darin, daß er seinen Namenszug in die Arbeitsbücher Neueingestellter und Entlassener kritzelte; beim Arbeitsamt Fachkräfte anforderte, die er fast nie bekam; Leute, die gekündigt hatten, zum Bleiben zu überreden versuchte und der außerordentlich hohen Fluktuation durch Qualifizierungsmaßnahmen zu begegnen trachtete. Die Löhne in der Papierindustrie waren niedrig; was Wunder, wenn immer mehr Arbeiter zur |212| Wismut abwanderten. Die meisten Stammarbeiter des Werkes hatten die Fünfzig überschritten, junge Leute kamen wenig, und diese wenigen waren obendrein oft renitente Burschen, denen in der Wismut wegen irgendwelcher Disziplinardelikte gekündigt worden war. Seit Nickel im Betrieb war, hatte sich unter den Neueingestellten kein einziger Papiermacher gefunden, überhaupt kaum ein Facharbeiter, kein Schlosser, kein Elektriker, kein Hochdruckheizer. Zwar war die Papiermacherei von alters her kein Lehrberuf – man arbeitete sich vom dritten Gehilfen zum Maschinenführer empor, vom Zuträger zum Holländermüller –, aber dieser Anlernprozeß dauerte eben seine Zeit. Was tun, wenn im Laufe von fünf Monaten vier Maschinenführer, drei erste Gehilfen und sechs zweite Gehilfen kündigen – von dritten Gehilfen, Zuträgern, Schleifern, Schmierern und Pressenstehern ganz zu schweigen? Immerhin arbeitete der Betrieb mit fünf Maschinen, drei Papiermaschinen im Werk I, zwei Kartonmaschinen im Werk II, die aber wollten in drei Schichten besetzt sein! Und das macht an reiner Maschinenbesatzung gute einhundertfünfzig Mann, da sind die Werkführer und die Schichtingenieure, die Laboranten und die Querschneiderfahrer, die Holzplatzleute und die Turbinenwärter noch gar nicht mitgerechnet!
    Nickel konnte also über Mangel an Arbeit nicht klagen; er war von morgens bis abends auf den Beinen, er spürte die Last der Verantwortung auf seinen Schultern; oft konnte er nachts nicht schlafen. Und wenn man das, was ihm durch den Kopf ging – da er das Ganze nicht zu überschauen vermochte, plusterten sich die Details ins Ungeheure –, und das, was er täglich anordnete, ablehnte, plante, durchsetzte, diskutierte, telefonierte, notierte und versprach, als Maßstab nimmt, so leistete er tatsächlich Beträchtliches. In Wirklichkeit aber kümmerten sich die wenigsten um seine Anwesenheit; pro forma tat man, als täte man, im stillen lächelte man ein bißchen über den Eifer des jungen Mannes, der immer wieder |213| ins Leere stieß, und im übrigen tat jeder, mindestens jeder zweite, was er selber für richtig hielt. Nickel spürte das auf Schritt und Tritt, er reagierte unterschiedlich; einmal arbeitete er um so verbissener weiter, ein anderes Mal sagte er sich: was tut’s, nach fünf Monaten kann man eben solch einen Betrieb nicht überschauen, nur ruhig Blut, das schaffen wir schon noch. An manchen Tagen aber war er mutlos. Das geschah besonders, wenn er auf Antipathien stieß, die er sich nicht erklären konnte. Er stieß auf verschlossene Gesichter bei Leuten, die er noch nie gesehen hatte; erhielt mürrische Antworten, wo er gekommen war, um zu helfen; erntete Schweigen, wo er kurz zuvor noch Vertrauen und Anteilnahme gesät. Und ein wirklich gutes Verhältnis fand er nur zu einigen wenigen. Was hatte das alles zu bedeuten? War es das Mißtrauen der Erzgebirgler gegenüber dem Zugezogenen? Waren es Vorbehalte wegen seiner Jugend? War es die alte Mauer zwischen den Arbeitern und den ›Beamten‹, oder gab es Kräfte im Betrieb, die systematisch gegen ihn – und damit gegen die Partei – konspirierten?
    Die Parteigruppe im Werk war schwach, sehr schwach, ganze achtundzwanzig Genossen, davon nur neun in der Produktion und – was fast noch schlimmer war – innerhalb des technischen Personals

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