Rummelplatz
sich vorgenommen hat, die Welt in Erstaunen zu versetzen. Nun aber war ihm beklommen zumute. Er stieg die Treppe empor und hielt sich genau in der Mitte, nicht zu nahe der Mahagonitäfelung, nicht zu nahe den Goldknäufen des Geländers. Freilich, ein leichter Kampf war das nicht, der ihm bevorstand; das Bewußtsein, ihn nicht verlieren zu dürfen, nicht weiter |216| zurückweichen zu können, war drückend. Würden seine Argumente ausreichen? Würden sie sich gegen Jungandres’ ausgefuchste Wendigkeit halten können? Was er durchzusetzen gedachte, war schließlich ein Novum in der Papierindustrie, einmalig in Deutschland – nur in der Sowjetunion gab es Beispiele, und Nickel hatte ein Blatt aus der illustrierten Zeitschrift »Sowjetunion« in der Tasche stecken, sein schwerwiegendstes Beweisstück. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als den ersten weiblichen Maschinenführer. Eine moderne Papiermaschine ist ein Millionenobjekt; fünf Meter breit, sechs Meter hoch, fünfzig Meter lang, dazu Antriebsaggregate, Rührbütten, Holländer, Überläufe, Pumpen – wenn man alles hintereinander rechnet, gute einhundertfünfzig Meter, und die Hälfte davon in zwei Etagen übereinander. Das ist ein empfindlicher Mechanismus, soviel wußte Nickel; er stellte sich die Maschine sogar komplizierter vor, als sie in Wirklichkeit war. Aber waren die Frauen vielleicht dümmer als die Männer? Und erforderten außergewöhnliche Situationen nicht auch außergewöhnliche Maßnahmen? Und außerdem: haben wir das Gesetz über die Gleichberechtigung der Frau durchgesetzt oder nicht?
Was Nickel nicht wußte, war, daß es nicht nur am Konservatismus der Männer lag, wenn es bisher keinen weiblichen Maschinenführer gab; in einigen Betrieben hatte man Versuche unternommen, und hie und da hatte auch bereits eine Frau vorübergehend als Maschinenführerin gearbeitet. Solange die Maschine normal lief, gab es dabei keine ernsthaften Schwierigkeiten. Stockte aber die Produktion, mußten Reparaturen durchgeführt, Sieb oder Trockenfilze gewechselt werden, dann gab es eine Knochenarbeit, die nach der traditionellen Arbeitsorganisation von einer Frau, wenn sie gerade kein Herkulesweib war, nicht geleistet werden konnte. Und zweitens mußte man, um überhaupt Maschinenführer zu werden, alle Arbeitsgänge beherrschen, das heißt: die Aufgabenbereiche aller zum Maschinenpersonal zählenden Arbeiter |217| durchlaufen haben und jegliche vorkommende Arbeit ausführen können, darunter ebenfalls einige, die außerordentliche physische Anstrengungen erforderten. Dafür gab es zwar keine zwingende Notwendigkeit – von einem Artilleriegeneral verlangt schließlich auch niemand, daß er eigenhändig Kanonen aus dem Dreck zieht –, aber die Tradition wollte es nun einmal so.
Wie gesagt: das alles wußte Nickel entweder gar nicht oder nur abstrakt, vom Hörensagen; nicht aus eigener Anschauung und Erfahrung. Und dieses Manko wog natürlich schwer, wenn man gegen einen Mann wie Jungandres ins Feld ziehen wollte, zumal der Produktionsleiter nur Gründe gelten lassen würde, die sich unmittelbar aus der Produktion herleiteten. Der Grund, der für Nickel ausschlaggebend war, schied beispielsweise von vornherein aus. Der Grund nämlich, daß sämtliche Maschinenführer des Betriebes parteilos waren; die junge Kollegin, die sich zum Maschinenführer qualifizieren wollte, hingegen nicht. Ruth Fischer war Kandidat der Partei, FDJ-Leitungsmitglied, Tochter eines alten Genossen. Sie arbeitete seit drei Jahren im Betrieb, und sie hatte sich in diesen drei Jahren die Achtung und das Vertrauen vieler Arbeiter erworben. Ihr Beispiel würde Beachtung finden.
Nickel war nun im zweiten Stock angelangt und in den Korridor eingebogen; ohne sich dessen bewußt zu werden, ging er von Schritt zu Schritt langsamer. Aber selbst der längste Korridor hat auch beim langsamsten Tempo einmal ein Ende. Nickel gab sich also einen Ruck und trat in das Vorzimmer. Die Sekretärin saß, den Telefonhörer zwischen das Ohr und die hochgezogene Schulter geklemmt, am Schreibtisch und stenografierte emsig über einem aus Ausschußpapier gehefteten Block. Dabei sagte sie fortwährend »Ja, jaja« und machte ein unterwürfiges Gesicht, obwohl doch ihr Gesprächspartner, dem dieses Gesicht galt, sie gar nicht sehen konnte. Nickel fiel das auf, aber er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt und dachte nicht weiter darüber nach. Er |218| fragte: »Kollege Jungandres drin?« Den ›Doktor‹
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