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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Spieß ins Überhauen. Eines Tages fuhr der Schachtleiter Polotnikow ein und donnerte anschließend den Geologen zusammen, weil die Gesteinsproben, die er bekommen hatte, nicht mit dem Geologenbericht übereinstimmten.
    |206| Er versprach den Brigaden das Blaue vom Himmel, wenn sie nur den Plan brächten. Seidel sagte: »Mich brauchen Sie nicht zu agitieren. Besorgen Sie ordentliche Gestänge, und wir besorgen den Plan.« Wie er das machen wollte, wußte niemand. Manche sagten: »Diesmal beißt er sich die Zähne aus.«
    Fischer gab ihnen eine zweite Maschine. Sie hätten einen Überkopflader brauchen können, aber es gab keinen. Seidel hatte mit Ach und Krach den Erzplan gebracht, jetzt bohrten sie mit zwei Maschinen an einer Scheibe. Die Schichtnorm stand bei zwei Metern – wenn sie den Rückstand aufholen wollten, mußten sie auf drei Meter kommen. Die Ablösebrigade fuhr weiter treu und brav ihren einen Meter. Die Schicht vor ihnen war nicht besetzt.
    Aber Fischers neues Bohrschema begann sich zu bewähren – sie hatten seine Tücken erkannt und zwei Loch um ein geringes versetzt. In der dritten Woche kamen die drei Meter zum ersten Mal, dann drei Meter zehn, dreidreißig. Der Steiger strahlte. Der Geologe versicherte, spätestens in der übernächsten Schicht müßte die Granitlage durchbrochen sein. Die Tagesleistung stand bei dreivierzig. Oben an der Prozenttafel führte die Brigade Seidel in einsamer Höhe. Und tatsächlich durchstießen sie den Granit. Der Radiometrist markierte Erz.
    Dann kam Drushwili an den Stoß, fluchte, drohte, sang in allen Tonlagen sein ›Sabotasch – Sabotasch‹. Das Bohrwasser war aktiv, hatte die Masse aktiv gemacht – Drushwili hatte drei Hunte an der Kontrolle zurückgehalten. Er ging selber mit dem Zählrohr an den Stoß, eine halbe Stunde lang.
    »Sauerei«, knurrte er, das Wort, das er von seinen zweihundert deutschen Vokabeln am häufigsten gebrauchte. Der schöne Fadenschein, der einen Ketcher mit Ausbauholz gebracht hatte, sagte salbungsvoll: »Pectus facit oratorem.«
    Aber Drushwili zog wieder ab. Er bot ihnen sogar von seinem Machorka an. Hinter vorgehaltener Hand erzählte der Fördermann Spieß einen Witz.
    |207| Und wieder Scheiben anbohren, wieder schießen, neuer Anschlag, Stoß freilegen, Hunte sacken. Und wieder ausgeleierte Bohrfutter, knirschende Kronen, Gestänge, die sich langsam ins Gestein fraßen. Wieder die Schläge des Bohrhammers an der Schulter, die stinkenden Pulvergase, die staubgraue Luft beim Trockenbohren, und über allem das zitternde Licht der Grubenlampen. Wieder die Flüche und die Schreie und die endlose Schicht.
    Manchmal, wenn Christian allein am Bohrhammer stand, dachte er: Bin ich nun Bergmann?
    Diese zweite Lehrzeit war härter als die erste. Er fiel zwar nach der Schicht nicht mehr taumelig und ausgepumpt auf den Strohsack, nein; seine Kräfte hatte er einzuteilen gelernt, seine Geschicklichkeit zu nutzen. Aber Seidel hatte ihn mitverantwortlich gemacht für den Verdienst der Brigade. Wenn er nicht durchhielt, traf es ihn nicht mehr allein. Die anderen würden es in ihren Lohntüten merken. Der Gedanke an die anderen verfolgte ihn, begleitete seinen Schlaf und seine Freizeit, vergällte ihm die Stunden. Die Brigade wurde ein Alptraum. Manchmal, wenn er seine Scheibe abgebohrt hatte und auf den Schießer wartete, betrachtete er die Bohrlöcher voller Angst. Wie, wenn sie nicht richtig saßen, wenn sie nicht genügend Vortrieb brachten, wenn er den Berg nicht richtig angegangen war? Er saß noch am Stoß, wenn die anderen schon ausfuhren, und oft fuhr er als letzter aus.
    Die Tage gingen dahin – ihm erschien einer wie der andere. Acht harte Stunden in dröhnender Einsamkeit, in qualvoller Ungewißheit zwischen Anstrengung und Anstrengung, acht harte Stunden. Er begann sein Leben nach Sonntagen zu rechnen, begann zu denken im Zyklus der großen Atempausen an jedem siebenten Tag. Und an den Sonntagabenden lähmte ihn bereits wieder der Gedanke an den Montag. Es war ein furchtbarer Kreislauf, eine Mühle, die jede Hoffnung zerrieb zwischen ihren schrecklichen, unaufhörlich rotierenden Mahlsteinen. Die Vergangenheit erschien ihm in |208| hellen, lockenden Farben, die Zukunft aber in düsterem Grau. Und manchmal, wenn er an den Neujahrsabend zurückdachte, sagte er sich verzweifelt: Wahrhaftig, wie lange kann ich das noch durchhalten … Ich bin nicht für den Schacht gemacht, für das ewige dawai-dawai-dawai, und den Plan im Genick,

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