Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
Vom Netzwerk:
Stunden unterwegs.
    Kurzum: sie hatte ihn also nicht erkannt. Schön, es war ziemlich duster, und er selbst hatte ja auch erst im letzten |234| Augenblick gemerkt, wer da an ihm vorbeispazierte. Vielleicht hatte sie ihn aber doch erkannt, wie man sich eben auf ein Gesicht besinnt, das man schon irgendwo einmal gesehen hat; schließlich: wer war er denn für sie? Die drei, vier Mal, die sie sich im Jugendheim gesehen hatten? Wußte er denn, ob sie ihn inmitten der anderen überhaupt bemerkt hatte? Sie war ja ohnehin immer von einem Schwarm dieser Papiermüller umgeben, dieser blauhemdigen Doofmänner …
    Nach jenem verpatzten Filmabend hatte sich Loose vorgenommen, das Jugendheim nie wieder zu betreten – er war seinem Vorsatz auch vierzehn Tage treu geblieben. Daß er dann doch wieder hinging, hatte verschiedene Gründe. Erstens: Wohin sollte man in diesem Kaff sonst gehen? Zwei Kneipen und Feierabend. Zweitens hatte sich herausgestellt, daß Kleinschmidt recht flott Klavier spielte. Im Haus dreizehn gab es einen Schießbudenbesitzer, der drummte ein bißchen zickig, aber er kannte einen Saxophonisten, Es-Alt, welcher ein Jährchen Wismut abmimte, nebenher Musikunterricht und ein bißchen Harmonielehre nahm; übers Jahr gedachte er sich seinen Berufsmusiker-Ausweis zu holen. So hatten sie also eine Band gegründet – aber nun spiel mal, wenn das einzige brauchbare Klavier des ganzen Erzgebirges in ausgerechnet diesem Freundschaftsschuppen steht! Was blieb übrig als ein Vertrag mit der Bermsthaler FDJ? Ein Separatfrieden sozusagen. Dies war der zweite Grund.
    Der dritte schließlich war einer, mit dem er vor sich selber nichts Rechtes anzufangen wußte, obgleich er ständig seine Vorstellungen und Hoffnungen und mitunter sogar sein Handeln beeinflußte. Es war die Hoffnung, Ruth Fischer zu sehen; ein Gedanke, der immer wieder aufschoß, eher Klang als Bild, ständig zurückgedrängt, nie völlig bewußt. Sah er sie dann tatsächlich, wußte er nichts Besseres, als vor sich hin zu dösen, wagte höchstens aus unauffälliger Entfernung einen Blick. Es schien, dieses Mädchen Ruth erinnere ihn an etwas Gutes, das er einst besessen, etwas Schönes, |235| das längst vergangen war; die Spur zurück war verschüttet. Es war eine Erinnerung an Helle, an freundliche Stimmen, an etwas Sommerliches – sofern man das eben Erinnerung nennen kann – oder vielleicht ein Wunsch, ein Traum, etwas Vorausliegendes?
    Ein wirkliches Erinnern an jenen Sommer neunzehnhundertvierzig gelang ihm nicht. Es waren wohl auch nur drei Tage; er war damals neun Jahre alt. Die Mutter war nach Königsberg gefahren, wo Vaters SS-Einheit irgendwelchen Dienst tat; ihn und die Schwester Annelies hatte man solange bei Onkel Otto und Tante Else einquartiert. Der Onkel Otto war streng genommen eigentlich kein Onkel, war ein Kamerad aus Vaters ehemaligem SA-Sturm, gewesener Meister in der Maschinenfabrik Reinecker AG, wo einst auch der SA-Mann Loose an einer Drehbank gestanden; jetzt, invalide, verzehrte er sein Gnadenbrot als Gärtner und Hausmeister eines der Reinecker-Direktoren. Die Villa, unweit der Treffurth-Brücke gelegen, an einer Seite begrenzt von der träg dahinfließenden Chemnitz, stand um diese Jahreszeit leer; der Hausherr war als Hauptmann zum Infanterieregiment 104, zur Zeit Truppenübungsplatz Großenhain, eingerückt; Frau Direktor und Tochter befanden sich zur Sommerfrische im Engadin. So kam es, daß dem Onkel Otto, wenn auch nicht das Haus, so doch der weitläufige Park uneingeschränkt zur Verfügung stand – er überließ ihn mannhaft den Kindern, den künftigen Soldaten Adolf Hitlers. Dies waren außer Peter und der vierzehnjährigen Annelies (die jungen Männern gegenüber ihren Geburtstag um zwei Jahre vorzuverlegen begann und gut und gerne auch für siebzehn gelten konnte) vor allem Onkel Ottos Tochter Ilse und ein junger Mann aus der Nachbarschaft, semmelblond, Luftwaffenfähnrich auf Urlaub. Der Fähnrich machte Ilse den Hof, die aber konnte ihn nicht leiden, er hatte angewachsene Ohrläppchen, Verbrecherohren, fand sie. Der Fähnrich suchte sie über einen Flirt mit Annelies doch noch |236| für sich einzunehmen; Ilse übersah sowohl ihn als auch sein Getechtel.
    Ilse, die Siebzehnjährige, war nun in der Tat ein merkwürdiges Mädchen. Sie liebte klassische Musik (Onkel Otto, wie alle gut deutschen Väter der Meinung, seine Tochter sei von der Vorsehung zu Höherem bestimmt, hatte sie leichtsinnigerweise Klavierspiel

Weitere Kostenlose Bücher