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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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kleinen Haushalt besorgte sie fast allein – die Mutter ging in die Verbandstoffabrik arbeiten, sie war todmüde, wenn sie abends nach |427| Hause kam. Sie wurde schmaler und gebeugter mit jedem Tag, als ob das Leben sie auszehre in seinen bitteren Prüfungen. Ruth hatte früh schon gewußt: die guten Menschen sind immer besonders wehrlos allen Schlägen und aller Grausamkeit ausgesetzt. Geschieht ihnen soviel Leid, weil sie gut sind – oder werden sie gütig, weil sie soviel Leid erfahren? Der einzige Lehrer in der Schule, der sie nicht quälte und schikanierte und manchmal sogar ein freundliches Wort übrig hatte, war ein stiller junger Mensch, dem im zweiten Kriegsjahr ein Bein zerschossen worden war. Ihre einzige Freundin, die Ursel, hatte die englische Krankheit. Und die Menschen, die sie am liebsten hatte, ihre Eltern, wurden von Sorgen erdrückt und von Drohungen verfolgt um nichts als ihrer Güte willen. War denn das Leben fühllos und blind?
    Im Herbst vierundvierzig hatte sich die Mutter niederlegen müssen – sie hatte keine Hilfe annehmen wollen bis zuletzt. Ruth war damals gerade aus der Schule gekommen und hatte zur Landhilfe gemußt. Zupacken konnte sie, der Bauer war gut zu ihr gewesen, auch dann noch, als er irgendwoher erfahren hatte, was mit ihrem Vater war. Als dann die Arbeit mehr Zeit ließ, im Winter und im zeitigen Frühjahr, hatte er sie oft tageweise nach Hause geschickt, hatte ihr auch etwas mitgegeben für die Mutter, einen Krug Milch, manchmal zwei, drei Eier oder ein Ende hausschlachtener Wurst. Aber es war zu spät.
    Alles, was Ruth in Erinnerung geblieben war von der Liebe ihrer Eltern, war ein sanftes Ordnen, unablässige Mühe, ein Vertrauen über alle Zweifel und Fragen hin. Aber es mußte ein Vorher gegeben haben, sie wußte es. Manchmal in den vergangenen Wochen hatte sie den Vater danach fragen wollen – sie hatte es nicht über sich gebracht. Sie wußte, wie dünn die Kruste war über dem Schmerz. Auch sie hatte ihn damals gespürt, den würgenden Griff, der die Welt leer macht und die Dinge sinnlos. Aber sie hatte ihre Jugend, hatte das wild sich aufbäumende Leben des ersten Nachkriegsjahres |428| ringsum, vor der Gegenwart verlor die Vergangenheit ihre Gewalt. Als sie dann hierher gezogen waren, ins obere Gebirge, hatte sie ihre Kräfte und ihre Gedanken anspannen müssen für jeden Tag, mit der Arbeit kehrte auch die Erwartung zurück, in der Erwartung die Freude.
    Mit Nickel freilich hatte sie nie darüber gesprochen. Es gibt Dinge, über die man sprechen kann, und andere, die sind wortlos. Sie wußten sich einig in fast all ihren Gedanken – warum sollte das nicht auch in den tiefsten und verborgensten, den noch nicht faßbaren so sein? Überdies war Nickel älter als sie, fast vier Jahre – sie glaubte, er müsse auch viel mehr erfahren haben und viel mehr wissen. Er hatte ja auch tatsächlich vieles erlebt, und manchmal, wenn er ihr davon erzählte, beneidete sie ihn fast ein bißchen. Und sie freute sich, daß er trotz der Jahre, die er ihr voraushatte, nie eine Überlegenheit spüren ließ, daß er jungenhaft ausgelassen sein konnte und richtig unvernünftig, und manchmal auch ein bißchen unbeholfen. Sie wußte nicht, daß sie es war, die ihn so jung machte.
    Einmal, halb im Scherz, hatte sie ihn gefragt: »Ich bin doch nicht die erste, die dir gefällt?« Er hatte sie betroffen angesehen und gesagt: »Aber natürlich. Wie kommst du darauf …?« – Nein, es hatte keine Frau gegeben in seinem Leben bisher; als er so vor ihr stand, wie ein zu Unrecht gescholtener Schuljunge, hatte sie es gewußt. Und sie hatte sich auch eingestanden, daß sie Angst gehabt hatte vor einer anderen Antwort. Nie vorher war ihr eine solche Frage in den Sinn gekommen, und nie vorher hatte sie darüber nachgedacht, ob ihr das wichtig wäre. Sie war nun doch ein wenig verwundert, daß alles so gekommen war.
    Ein andermal – sie hatten einen jener herzzerreißenden Filme gesehen, in denen die Liebespaare einander erst verdrehten Auges in den Armen, später in den Ohren liegen, bis schließlich doch noch jedes Mädchen den richtigen Mann, jeder Mann die richtige Frau findet – da hatte sie ihn gefragt, ob |429| ihm das nicht auch gefallen könnte, wenn ihm so viele schöne Frauen nachlaufen würden, wie dem Filmhelden nachgelaufen waren. Sie war gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß er den Film ernst nehmen könnte. Aber er hatte ihn ernst genommen, hatte sich geärgert über die

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