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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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angefüllt war mit tausend kleinen Erlebnissen bis an den Rand. Sie war heiter und erlebnisfreudig wie je, zugleich lebhafter als früher und auf eine ansteckende Weise jung; die anderen waren gern in ihrer Nähe, die Arbeiter in der Halle drei, die Freunde in der Jugendgruppe; wo sie auch auftauchte, war sofort alles freundlicher. Dabei hatte sie selbst kaum ein Gefühl dafür, daß etwas Außerordentliches in ihr Leben getreten wäre oder daß es gar eine Wendung genommen hätte. Sie ging ihren Weg, ging ihn nun nicht mehr allein, aber im Grunde war sie |425| ihn nie allein gegangen. Gewiß: vieles war neu. Sie freute sich auf die Stunden mit ihm, sie erlebte so vieles, das sie ihm unbedingt erzählen mußte, auch von ihm mußte sie so vieles wissen, mußte ihn ganz kennenlernen und ganz mit ihm vertraut sein. Das alles aber schien ihr ganz natürlich, das eben war leben.
    Manchmal dachte sie, daß die Dinge zwischen Mann und Frau, um die alle Welt so viel Geheimnis machte, soviel Verschwommenes und auch Häßliches, in Wirklichkeit viel einfacher seien, viel klarer und schöner. Sie glaubte, das müsse überall so sein, und sie verstand die Menschen nicht, die das ins Anstößige zerrten mit ihren Worten, mit gezierten Schnörkeln und bemühtem Tiefsinn, mit Schmutz und Oberflächlichkeit. Zwischen ihr und ihm war alles sauber und natürlich, da war kein Raum für überschwengliche Gefühlsausbrüche und keiner für verschwommene Ängste, himmelhochjauchzend am Morgen und am Mittag zu Tode betrübt, sie verstand wirklich nicht, wie es hätte anders sein können. Einmal hatte sie geglaubt, daß die Welt sich nun von Grund auf verändern müsse – das war lange her. Die Erde drehte sich weiter, ein freudiges Erstaunen war über sie hingegangen und hatte alle Dinge angerührt, ein Hauch nur; es war genug, die Welt mit Frische zu erfüllen.
    Manchmal an den Wochenenden, wenn Ruth spät nach Hause gekommen war, lag sie nachts lange wach. Der Vater, wenn er da war, saß meist bis Mitternacht am Küchentisch über Büchern und Zeitschriften, oder er hatte sich auf dem alten Küchensofa ausgestreckt mit einem Buch und bei leiser Radiomusik – mitunter schien es, als warte er auf etwas, vielleicht auf ein Wort von ihr, ein bestimmtes. Aber sie tat ihre Handreichungen wie immer, erzählte ihm dabei, und er hörte zu, entgegnete zuweilen auch etwas; sie glaubte dann, daß sie sich geirrt hätte. Dennoch, wenn sie allein in ihrem Zimmer lag, mußte sie oft daran denken, wie ihre Eltern miteinander gelebt hatten, und: wie sie gelebt haben mochten |426| vorher. In ihrer Erinnerung war die Kindheit in dünnen Rauch gewoben, bis zu ihrem sechsten oder siebenten Jahr hin. Ein paar Bilder schimmerten hindurch, Empfindungen und Eindrücke, wenige. Das Haus im Mülsengrund, darüber fast immer ein grauer Himmel hing; Nachbarskinder, die nicht mit ihr spielten; das schmale Schlafzimmer, feucht und dunkel die Wohnküche. An zwei Puppen konnte sie sich erinnern und einen Stoffhund, der hatte Rappo geheißen und war ganz schwarz gewesen mit großen roten Knopfaugen. Das früheste Bild der Eltern, dessen sie sich entsinnen konnte, hatte sich in der düsteren Waschküche zugetragen, an einem Regentag. Als der Vater hereinschaute, hatte Mutter gesagt: Das letztemal hat’s auch schon in die Wäsche geregnet – Hermann, du wirst mir doch nicht untreu geworden sein? Sie hatte gelächelt dabei, auch der Vater hatte gelächelt, und dann hatte er gesagt: Geh nur, du wäschst bloß zu oft. – Vielleicht, daß Ruth sich gerade daran erinnerte, weil ihr die rätselhaften Worte damals lange nicht aus dem Sinn gegangen waren. Vielleicht auch, weil sie den Vater so selten hatte lachen sehen.
    Das Bild der Mutter war in der Erinnerung deutlicher als das des Vaters. Es war das Bild einer blassen, schmalen Frau, stets ein bißchen kränklich, so lange Ruth zurückdenken konnte, aber immer voller Güte und stiller Heiterkeit. Jetzt, so viele Jahre später, wußte Ruth, welche Kraft und welchen Mut ihre Mutter gehabt haben mußte. Sie sah sie am Herd stehen und Kartoffelpuffer backen, sah sie am Fenster sitzen, über die Heimarbeit gebeugt, sah sich mit ihr auf den staubheißen Feldern bei der Ährenlese und in den großen, kühlen Wäldern bei den ersten Pilzgängen. Sie hatte die Mutter nie klagen gehört, auch nicht, als sie ihr eines Tages gesagt hatte, daß der Vater nun lange Zeit nicht kommen würde. Damals ging Ruth in ihr dreizehntes Jahr. Den

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