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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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›Traumfabrik‹, wie er es nannte, und er verstand nicht, wie sie ihn mit diesem Filmgigolo vergleichen konnte. Im stillen hatte sie lächeln müssen über seinen Ernst und seine unerwartete Verletzbarkeit, aber sie hatte sich doch vorgenommen, in Zukunft aufmerksamer zu sein. Genauso wie es in ihr Bilder und Vorstellungen gab, die sie noch nicht fassen, noch nicht ausdrücken konnte, gab es sie wohl auch in ihm. Es gab so vieles, das sie noch nicht wußte, und sie wollte behutsam sein. Zum ersten Mal aber hatte sich in ihr auch ein Gefühl dafür geregt, daß sie eine Schwelle überschritten hatte, hinter die es keine Rückkehr gab, ja, daß es überhaupt nichts gab im Leben, das man zurücknehmen oder ungeschehen machen könnte. Die Welt hatte sich nicht so von Grund auf verändert, wie Ruth einst geglaubt hatte, daß sie sich verändern müsse – sie war aber auch nicht mehr so, wie sie noch vor einem halben Jahr gewesen war. Manches, was damals möglich gewesen war, war nun nicht mehr möglich – anderes, was damals nicht möglich war, war möglich geworden. Sie liebte diesen großen Jungen, und sie ahnte, daß die Liebe nichts vom Himmel Gefallenes, Ewiges ist, sondern daß sie erhalten werden muß und immer neu erworben. Sie kann nur wirklich leben, solange der Mensch in ihr wächst.
    Und Ruth sah: streitsüchtig und verbittert wurden die Menschen immer dann, wenn sie sich in sich selbst verkrochen, den anderen übersahen, wenn sie selbstgerecht und selbstzufrieden wurden. Überall ringsum gab es Ehen, die in Egoismus erstarrten, in der Gewöhnung erfroren waren. Ruth nahm sich vor, nie zu verharren im Vorläufigen, sich nie zufriedenzugeben mit Erreichtem. Nicht unduldsam wollte sie sein, sondern ungeduldig; sie wollte nicht neben ihm gehen, |430| sondern mit ihm. Und sie verlangte von ihm ein Gleiches. Nie würden sie einander im Wege stehen, sie würden vielmehr immer unterwegs sein, ›auf dem Wege‹, immer gemeinsam. Sie wußte noch nicht, wie wenig wortwörtlich dies Bild ist und wie sehr die Liebe der Gegenwart bedarf – und wußte auch nicht, wie sehr sie selbst schon ein Teil war ihrer beider Liebe.
    Anfang März dann wurde Nickel ganz plötzlich zu einem vierwöchigen Lehrgang in die Hauptverwaltung berufen, einem, wie es hieß, Lehrgang für ›Kaderleiter‹. Es war das Zeitalter der Lehrgänge, man war ganz andere Zeitspannen gewöhnt, so machte auch Ruth sich zunächst wenig Gedanken darüber, wie lang manchmal vier Wochen sein können. In der kurzen Woche, die bis zur Abreise blieb, hänselte sie ihn vielmehr mit seiner neuen Berufsbezeichung. Die Genossen kannten diesen Begriff aus der Parteigeschichte, Benedix kannte auch einen Ausspruch Stalins: Die Kader entscheiden alles – sonst aber wußte kaum jemand etwas anzufangen mit dem neuen Wort. Der Dr. Jungandres, als er davon erfuhr, ließ sich zu einem Kurzvortrag herbei: »Der Terminus Kader kommt im Französischen und im Latein vor und heißt soviel wie Rahmen oder Kern, was genausoviel miteinander zu tun hat wie etwa das Loch mit der Füllung.« Er vergaß denn auch nicht, überall im Betrieb das Wort vom ›Kern- und Rahmenleiter‹ in Umlauf zu bringen; »die Sprache bleibt ein reiner Himmelshauch, empfunden nur von stillen Erdensöhnen«.
    Der Lehrgang begann an einem Montag; Ruth brachte Nickel am Sonntag nachmittag zum Zug. Es war ein kalter und düsterer Tag, der Himmel war grau verhangen, ausgestorben lagen die Straßen, kalt und finster war auch der Bahnhof. Sie waren allein auf dem Bahnsteig, nur der Knipser in seinem Häuschen vertrat sich die Füße, mürrischen Gesichts, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände tief in den Taschen. Ein naßkalter Wind fegte über den Bahnsteig, beulte blaffend die gesprungenen Igelitfensterchen der Überführung |431| und wischte Feuchtigkeit in die Wände, im Mauerwerk glitzerte giftig der Schwamm. Ruth und Nickel standen im Windschatten des Knipserhäuschens. Der Zug hatte Verspätung.
    Die trostlose Stimmung übertrug sich. Ruth dachte daran, daß sie den Weg zurück durch die leeren Straßen allein gehen würde, allein im Bus hinauf in die Siedlung, in die leere, kalte Wohnung; sie kam sich verlassen vor. Plötzlich ward ihr bewußt, daß sie seit dem vergangenen Spätsommer nie länger als ein oder zwei Tage getrennt gewesen waren. Sie wollte es ihm sagen, wollte ihm sagen, wie ihr zumute war, aber sie fand die Worte nicht, und dann dachte sie auch, daß sie es ihm nicht so

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