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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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hektografierten Einladung der Nationalen Front: Lichtbildervortrag, Aufbau der Stalinallee, erste sozialistische Straße Deutschlands. Der Brief war kurz. Eineinhalb Seiten von einem DIN-A-4-Block, wie sie im Werk aus Ausschußbögen geheftet wurden, dünn und steil beschrieben in Nickels frühreifer Kinderhandschrift: Wir sind untergebracht in einem ehemaligen Herrenhaus, das Essen ist Drei bis Vier, zehn bis elf Stunden Unterricht täglich und abends Vorträge, Parteigruppensitzungen, Zeitungsschau; der Seminarraum ist dabei immer hundekalt und die Lerndisziplin schlecht, besonders bei den älteren Kollegen, aber wir haben in der Parteigruppe gleich am Anfang ein Kampfprogramm beschlossen zur Erreichung |434| des Lehrgangszieles, und das werden wir durchsetzen. Ruth las den Brief zweimal, las ihn dreimal, etwas, das sich als persönliches Wort hätte deuten lassen können, fand sie nicht. Sie war ein bißchen enttäuscht und doch auch wieder froh, froh vor allem darüber, daß sie ihren ersten wirren Brief vom Montag nicht abgeschickt hatte. Sie sagte sich: Er hat dort den ganzen Tag zu tun und wird kaum zum Schreiben kommen, und bestimmt bringt er es einfach nicht fertig, in einem Brief zu sagen, wie ihm wirklich zumute ist; ich habe es ja auch nicht fertiggebracht.
    Sie setzte sich hin und schrieb einen Antwortbrief, der geriet ihr genauso recht und genauso schlecht, wie Nickels Brief gewesen war. Nun der Ton einmal gegeben war, fand auch sie keinen anderen. Der Brief steckte aber kaum im Kasten, da fiel ihr mit einemmal alles ein, was sie hatte schreiben wollen und was sie hätte schreiben müssen. Sie ärgerte sich über die nichtssagenden Mitteilungen, schämte sich der förmlichen Wendungen, erschrak über ihre Gedankenlosigkeit. Sie stellte sich sein Gesicht vor, wenn er den Brief lesen würde, und ihr war, als habe sie Verrat geübt an ihrer Liebe, an ihm, an sich selbst. Was war geschehen, daß sie so leere und fühllose Worte hatte schreiben können? Woher kam diese erschreckende Fremdheit?
    Sie schrieb einen zweiten Brief. Den ganzen Nachmittag schrieb sie und ein Stück des Abends, und mit jedem Wort, das sie schrieb, fiel die Starre von ihr ab und die Bangigkeit – die Worte kamen nun wie von selbst. Sie schrieb von ihrem ersten Abend nach seiner Abreise, von den Erlebnissen und Begebenheiten jeden Tages, schrieb, was sie dachte und fühlte, und all das, was sie einst nicht oder anders gespürt hatte in jener seltsamen Zeit, da es ihn noch nicht gab – und sie wurde froh darüber und leicht, die Verschwommenheit löste sich, als habe es eben des geschriebenen Wortes bedurft zur endlichen Klarheit. Auch das Schwere vergaß sie nicht, aber sie sah es nun schon mit einem Lächeln. Sie sorgte sich nicht mehr darüber, |435| wie er es aufnehmen würde; sie schrieb einfach, was in ihr war.
    Nach diesem Brief war das Alleinsein leichter. Allmählich kehrte der gewohnte Alltag zurück mit seinen Aufgaben, seinen Eindrücken und Entdeckungen, seinen Begegnungen. Etwas aber von der Verzagtheit dieser Tage blieb zurück, blieb die ganzen vier Wochen, und würde vielleicht immer bleiben: ein Vorgefühl kommender Trennungen, eine Ahnung künftiger Widrigkeiten. Sie hatte etwas entdeckt in sich, von dessen Vorhandensein sie bisher nichts gewußt hatte.
    Und sie hatte Neues entdeckt auch in ihm. Es gab nichts Böses, das ihnen geschehen konnte, solange sie wahrhaft beieinander waren – es gab aber auch nichts, das sie beieinanderhalten konnte außerhalb ihrer selbst. Immer war alles in Bewegung, drängte zur Nähe hin und wieder zur Entfernung; es würde wohl immer so bleiben, daß sie es stärker empfand, daß sie tiefer als er um die Zerbrechlichkeit des Bestehenden wußte in dieser strengen Zeit. Ihre Liebe war groß genug, ein ganzes Leben darin aufzunehmen mit allen Wurzeln und allen Zweigen, und es gab genug an ihr, das er immer lieben würde. Dennoch würde sie um dies eine immer bangen müssen: um die Entfremdung, die in der übergroßen Ferne liegt und in der Übernähe, und in der Geschäftigkeit der Tagesdinge, die sich immer so wichtig machen und es manchmal sogar sind, die aber alles Tiefe und Wahrhaftige so schnell überwuchern mit ihrem Gewebe von guten Gründen, von Augenblicken, von Geradesohin und Geradenoch. Sie würde immer dagegen ankämpfen müssen, und es war gut, daß sie es nun wußte.
    Sie spürte die Kraft in sich, die nötig war.

|436| XV. Kapitel
    Anfang Mai wurde Peter Loose aus dem

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