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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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weder nach der einen noch nach der anderen Seite. Nein, mit seinem Gewissen war der Dr. Jungandres durchaus im reinen, auch nachdem er diesem Manne von der Staatssicherheit gesagt hatte, daß er keinerlei Anzeichen der bevorstehenden Flucht bemerkt habe. Ferner hatte er erklärt, seiner Meinung nach könne jeder seinen Wohnsitz nehmen, wo es ihm beliebe, daraus also mache er dem Dr. Kautsky und den anderen keinen Vorwurf. Aber daß jemand seinen ihm anvertrauten Posten heimlich verlasse, das sei nicht in Ordnung; er, Jungandres, billige das nicht. Flucht allerdings, wie sich der Herr Major ausdrücke, würde er es nicht nennen, wenngleich er zugeben müsse, daß er im Moment kein besseres Wort dafür wisse.

    Vier Wochen nach der Flucht erhielt der Dr. Jungandres eine Ansichtskarte aus Offenburg am Schwarzwald, darstellend einen Zug der Schwarzwaldbahn, der durch ein grünes, schwellendes Land fuhr, über einen kühn geschwungenen Viadukt hin. Johanna, burschikos und heiter, wie er sie immer gekannt hatte, teilte ihm mit, daß sie ein piekfeines, |423| hochmodernes Labor übernommen habe. Vorerst aber trete sie einen vierzehntägigen Urlaub an, sie führe in die Schweizer Alpen. Über ihr plötzliches und für ihn so unvorbereitetes Verschwinden bäte sie ihn, nicht böse zu sein.

    Die ersten Wochen nach der Flucht brachten auch für Ruth Fischer ein gerüttelt Maß an Arbeit. Dörner, ihr Maschinenführer, war zum Werkführer aufgerückt, sie arbeitete jetzt mit Hahner zusammen, dem ersten Gehilfen aus der Ablöseschicht, den Jungandres sofort als Maschinenführer eingesetzt hatte. Ihr selbst hatte er erklärt, ein Jahr ungefähr würde er sie als ersten Gehilfen an der III. Maschine lassen, sie solle die Augen aufsperren, er glaube, in der Zeit könne sie es schaffen. Wenn aus ihr kein Maschinenführer würde, wäre er blamiert, und das würde er sich so zu Herzen nehmen, daß er alles auf den Kollegen Nickel abwälzen werde, sie wisse schon Bescheid. Natürlich hatte Jungandres bemerkt, daß zwischen ihr und dem Personalleiter sich etwas angebahnt hatte; man sprach übrigens überall darüber in der Halle drei und im Holländersaal, gutmütig foppend die einen, andere aber auch mit spitzer Zunge.
    Über ihre Aussicht, in einem Jahr schon Maschinenführer zu werden, sprach sie oft mit Nickel. Er freute sich für sie, aus vielen Gründen, am meisten, weil er spürte, daß sie glücklich war. Glücklich war auch er. Die Ereignisse hatten endgültig den Damm niedergerissen, der zwischen ihm und den alteingesessenen Arbeitern immer noch gestanden hatte – selbst die Geschichte von Kautskys kofferbepacktem Auto, die der alte Beimler natürlich immer wieder aufwärmte, hatte dazu beigetragen. Nickel empfand sie nun schon selber als ausgemachten Witz, er lachte freimütig mit, wenn jemand darauf anspielte. Beigetragen hatte selbstverständlich auch sein Verhältnis zu Ruth. Vielen kam der Personalleiter eben einfach dadurch näher, daß er mit einem Arbeitermädel ›ging‹ |424| und nicht mit einer von diesen stöckelabsätzigen, krampfhaft hochdeutsch lispelnden Ziegen, mit denen die Verwaltungshengste in früherer Zeit aufzukreuzen pflegten. Tatsächlich, früher wäre es ein Unding gewesen, wenn einer in seiner Position sich vor aller Öffentlichkeit – und in durchaus ernster Absicht, wie es schien – mit einer wie der Ruth Fischer abgegeben hätte, einem Maschinenmädel. Und überhaupt: man rückte im ganzen Betrieb enger zusammen nach der Flucht, kam einander näher, die Atmosphäre war frischer und aufgeschlossener geworden – da wurden denn die schönen Augen, die der Kollege Personalleiter dem Mädchen Ruth Fischer machte, gleichfalls zu einem Zeichen der Zusammengehörigkeit, viele empfanden es so, vielleicht sogar die meisten. Das war eine sehr naheliegende Regung, hier, im Gebirge, wo seit altersher nahezu jeder mit nahezu jedem versippt und verschwägert war – wenn man auch sagen muß, daß die engen verwandtschaftlichen Bindungen sich in der Regel nicht gerade bis zur gegenseitigen Achtung oder gar zur Eintracht verstiegen.
    Ruth jedenfalls, wenn sie nicht bis über die Ohren in der Arbeit steckte, war sehr oft mit Nickel zusammen; manchmal kam er auch während der Schicht an ihre Maschine. Häring und Hahner grienten dann immer und murmelten etwas von ›Personalpolitik‹ und ›Nachwuchsfragen‹.
    Der Herbst und der Winter verflochten sich für Ruth zu einer bunten Kette von Tagen, deren jeder

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