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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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schwermachen durfte und daß nichts gebessert wäre, wenn sie sich gehenließ. Auch er war befangen in der Beklommenheit dieses Abschieds, sie spürte es. Was ist denn in uns gefahren, dachte sie. Vier Wochen – wir tun, als wäre es eine Ewigkeit. Wenn wenigstens er etwas sagen wollte. Aber er hatte nur den Arm um ihre Schultern gelegt und schwieg.
    Als dann endlich der Zug kam, blieb wenig Zeit für Worte. Nickel schob eilig sein Köfferchen in ein leeres Abteil, kam dann noch einmal herunter und umarmte sie. Der Rotbemützte hatte bereits die Kelle gehoben, der Zug ruckte an. »Ich schreibe gleich!« sagte Nickel hastig. »Es sind ja nur vier Wochen, und wenn ich zurück bin …« Aber er mußte aufspringen. Ruth lief neben dem Zug her, drin zerrte Nickel am Fenstergurt, er mühte sich verzweifelt, rannte ins Nachbarabteil und rüttelte auch dort am Fenster – als es endlich nachgab, war der Zug bereits in die Kurve der Bahnhofsausfahrt eingebogen und verdeckte die Sicht zurück. Ruth sah dem letzten Wagen nach; sie stand immer noch, als der Zug schon in den Tunnel eingetaucht war, einen guten Kilometer talwärts.
    Sie fuhr zur Siedlung hinauf, kam an, als die Dunkelheit hereinbrach, tatsächlich war ihr kaum jemand begegnet. |432| Niemand in den Straßen, niemand am Bushalteplatz, drei junge Burschen waren unterwegs zugestiegen, Wismutkumpel, stiegen aber an der nächsten Haltestelle wieder aus. Der Busfahrer kannte Ruth, er hielt vor ihrer Haustür, obschon dort keine Haltestelle war. Er wunderte sich, daß sie sich nicht wie sonst mit irgendeinem harmlosen Scherz bedankte.
    Der Abend war stumm und endlos. Alles ringsum war unverändert, die Dinge hatten ihren gewohnten Platz – und doch war es, als sei ein Schatten über sie hingegangen und habe alle Farben verdüstert, alle Vertrautheit von ihnen genommen. Ruth nahm ein Buch, versuchte zu lesen, legte es wieder weg und holte ein anderes; sie holte Hermann Fischers frischgewaschene Hemden vom Boden, steckte das Bügeleisen an, wußte nach einer halben Stunde wieder nichts mit sich anzufangen, die Zeiger der Uhr schienen stillzustehen, die Wände sich verschworen zu haben, fremd zu tun. Noch schlimmer war es in ihrem Zimmer. Sie holte sich schließlich ein paar Wolldecken, machte sich auf dem Küchensofa ein Lager zurecht, lag lange nach Mitternacht noch wach. Sie hatte das Radio leise gestellt und mußte dann doch eingeschlafen sein; gegen zwei Uhr weckte sie ein schmerzhafter Pfeifton. Sie zog den Stecker aus der Steckdose. Am Morgen erwachte sie mit Kopfschmerzen, sie fühlte sich unausgeschlafen und zerschlagen.
    In diesen vier Wochen lernte sie das Warten kennen und das Alleinsein, lernte es ganz. Nie zuvor hatte sie sich so allein gefühlt; nicht, wenn Hermann Fischer die ganze Woche über im Lager auf dem Rabenberg blieb und sie allein war in dem Siedlungshäuschen; als Kind nicht, drunten im Mülsengrund; und auch damals nach ihrer mißlungenen Probeschicht als erster Gehilfe nicht, in der ganzen Verzweiflung ihres vermeintlichen Versagens. Ihr war, als wisse sie erst jetzt ganz, was das ist: zueinandergehören.
    Am Montag, gleich nach der Frühschicht, schrieb sie einen |433| Brief. Sie begann ihn immer wieder neu – jedesmal, wenn sie ein Stück überlas, kamen ihr die Sätze sehnsüchtig vor und gefühlig verschwommen; das konnte doch nicht sie sein, die da schrieb. Nach vier oder fünf Ansätzen gab sie es auf. Sie zog sich um und fuhr ins Jugendheim. Aber auch hier konnte sie heute keine Ablenkung finden, konnte ihre Gedanken nicht in eine andere Richtung zwingen, wurde ihrer Stimmung nicht Herr. Sie verlor zwei Sätze Tischtennis hintereinander an ein mittelmäßig spielendes Mädchen aus dem Papiersaal, spielte später mit dem kleinen Beimler ein gemischtes Doppel, sie verloren auch das. Sie galt als sehr gute Spielerin, und die anderen wunderten sich über ihre Nervosität, über ihre überzogenen Schmetterbälle, ihre ungefährlichen Angaben. »Konditionsschwäche«, meinte der kleine Beimler, »da kann man nichts machen. Rauch eine, das beruhigt.« Sie rauchte sonst nie, höchstens einmal aus Ulk, diesmal aber nahm sie die Zigarette, rauchte hastig und hustend und genußlos.
    Am Donnerstag kam Nickels erster Brief, er war am Dienstag aufgegeben. Ruth war jeden Tag sofort nach der Schicht nach Hause gefahren, sie tat das sonst selten in der Frühschichtwoche, hatte dann enttäuscht vor dem leeren Briefkasten gestanden und einmal vor einer

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