Rummelplatz
Fluge« |524| von Kuba, »Der wahre Mensch« von Polewoi, »Die junge Garde« von Fadejew, »Deutschland. Ein Wintermärchen« von Heine sowie Dr. Oetkers Kochbuch; Singen und Kartenspielen sind dem Häftling untersagt, ebenso jegliche andere Art von Spielen, ferner ist es verboten, aus dem Fenster zu sehen, natürlich verboten, von einer Zelle zur anderen Verbindung aufzunehmen etwa durch Klopfzeichen, Liegen ist am Tag verboten und Stehen nachts, um zwanzig Uhr abends hat der Häftling sich zur Ruhe zu begeben, die Kalfaktoren, das sind diensthabende Häftlinge, verteilen vorher pro Zelle eine Kanne Waschwasser und entleeren die Kübel, nach zwanzig Uhr ist Sprechen verboten, jede Zelle hat einen Spion in der Tür, durch den hin und wieder der diensttuende Wachtmeister hereinsieht, von zwanzig Uhr abends bis sieben Uhr morgens liegt man, elf Stunden, der Tag hat vierundzwanzig Stunden, wie viele Stunden, wieviel Tage, wer weiß.
Er lag, er wußte, die anderen liegen und nur einer schlief, Dertinger, der schlief immer zuerst, konnte schlafen, nicht zum erstenmal allein in seinem Fleisch, Dertinger, Zeuge Jehovas, unangefochten vom abwesenden Himmel im Gitterfenster, von Auge und Mond, von den vergeblichen Zeiträumen; sein Himmel war von anderer Art und gegenwärtig. Er lag, obere Pritsche, unterm Desinfektionsgeruch der Wolldecke, Dertinger unten, Hiller daneben, daneben Kocialek; Müller, Siegfried Müller, Schachtzimmermann, lag quer davor, hatte von jedem die Füße, die von Kocialek hatte er im Gesicht. Am Tag stapelten sie die Matratzen unter Dertingers Pritsche, nachts legten sie sie aus: zwei nebeneinander, eine quer, Dertinger und Peter übereinander auf Klappritschen, davon gab es zwei, die anderen lagen auf dem Fußboden. Die lagen da, und Kocialek, der aus Zelle 134 zu ihnen verlegt worden war, drei Tage erst her, Kocialek hätte gern Peters Pritsche gehabt, man war da oben fast allein, jedenfalls berührte |525| man keinen, das ist wichtig für Onanisten. So lag er, wartete er, Kocialek an der Wand, Kocialek neben Hiller, bis die anderen schliefen, bis er glaubte, sie schliefen, glaubte es immer zu früh, hörte dann Hillers bösartige Stimme, Adolf Hiller, Fleischermeister, Steuerhinterziehung, drei Jahre Zet: Das Schwein wichst wieder die Decken voll. Hiller, der sich rächte, der immer auf der Lauer lag, der mit seinem Namen geschlagen war, den jeder sofort umdachte, der ihn erfuhr, geschlagen war mit drei Jahren, mit Fäusten geschlagen, Muskeln, die Kälber stemmen konnten und ohnmächtig waren vor Zellentüren, Hiller mit seinem Haß, seiner Dumpfheit, seiner Strenge.
Solange sie redeten, ging es. Er lag oben, schmerzhaft wach, manchmal das Geräusch an der Tür, unsichtbares Auge, der Wachtmeister auf lautlosen Gummisohlen, manchmal ein Schritt unterm Fenster, Wachwechsel. Und die Stadt draußen, Stadt aus ähnlichen Ecken, die Unbekannte, Vorgestellte, aber die Orte gleichen sich alle von hier aus: Straßen, Städte, Brücken, Räume. Da war ein Abend von zärtlicher Farbe, gelbfleckige Theke in einem Bahnhofsrestaurant, faulige Baumstümpfe am Weg, bergwärts. Ein Herbstmittag im Wald, Gesichter, vergessen geglaubte Gespräche, lauter deutliche Dinge. Die Zeit verging nicht und war nicht vergangen. Da war ein Mädchen, das sich das Wasser aus dem Haar schüttelte und die Tür öffnete, oben waren schon wieder die Sterne da. Aber das alles war annehmbar, solange sie redeten, war schattenlos, eindeutig, überschaubar. Erst wenn es still wurde, begann die wirkliche Nacht. Kein Flüstern mehr, kein Gezischel, kein Streit und kein verhaltenes Gelächter; nur Hillers Röchelatem, das widerwärtige Keuchen aus Kocialeks Ecke, der stille Schlaf Dertingers, Müllers Unruhe. Erst wenn es still wurde, standen die Fragen auf, mischten sich Bilder ein, die mit hinüberwollten, Schlaf, der nicht kam, zäh, qualvoll.
Solange sie redeten: immer die gleichen Geschichten. Wie schmal die Erinnerungsräume, wie flächig diese Welten, |526| Gemeinsamkeiten vortäuschend, wenn sie einander verstanden im Geflüster ihrer Vergangenheit: Frauen, die sie gehabt hatten, Feste, die sie gefeiert hatten, Kommißabenteuer, Heldenleben in Feindesland. Und immer die unausgesprochene Einmütigkeit in der Schuld der anderen: jeder ein Gott in seiner Haut. Und die Vorschüsse auf kommende Zeiten immer, einhellige Wunschhorizonte, wenn sie hier herauskämen. Einmal richtig vollaufen lassen, den Wanst vollschlagen, eine
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