Rummelplatz
richtige Frau beschlafen. Den lieben Gott einen frommen Mann sein lassen. Außer Dertinger, der sagte nie etwas.
Es gab noch eine andere Gemeinsamkeit, aus der war Kocialek ausgeschlossen. Kocialek, Geschlechtsverkehr mit Knaben, Sittlichkeitsverbrecher, zwei Jahre rechnete er. Ausgeschlossen aus der Clique derer, die ihre Delikte nicht anerkannten: Hiller, dreitausend Mark Steuerrückstände, die hat heute jeder, sagte er, und diesen Buchungsfehler von vierhundert Mark gleich als Hinterziehung anzukreiden – drei Jahre. Dertinger, der sein Delikt nicht erklären konnte, mit fünf Jahren rechnete wie die anderen beiden Zeugen Jehovas in diesem Knast und der bebrillte Jüngling von der Jungen Gemeinde, Zelle gegenüber. Müller, ehemaliger Bewohner der Baracke vierundzwanzig, Rabenberg, ein alter Bekannter. Der hatte ein paar Bretter mitgehen lassen vom Schacht, eine Rolle Kabel, die Laube herzurichten für seine Beischlafwitwe, Gartenlaube mit elektrisch Licht, Abfälle, sagte er, liegt doch überall herum, vergammelt doch sowieso. Ja, also: Gesetz zum Schutze des Volkseigentums. Seine Erwartung belief sich auf drei Jahre. Und Loose, Peter Loose, Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt laut Anklageschrift. Wenn Sie keinen Anwalt berufen, stellt das Gericht zu Ihren Lasten einen Pflichtverteidiger. Und die anderen vom Parkberg? Saßen natürlich auch in diesem Knast, auf verschiedene Zellen verteilt, Verdunklungsgefahr. Das ist, wenn Licht in die Sache kommen könnte durch Absprache.
|527| Manchmal aber, manchmal schliefen auch die anderen nicht. Adolf Hiller, Ex-Fleischermeister, einhundertfünf Kilo, wälzte sich auf seiner Matratze, Zähne knirschten, Nägel gruben sich in Fleisch, der knirschte die ganze Nacht weiter, wenn es einmal so anfing, das kannten sie schon. Der sah die HO in seinen Laden einziehen, fremde Hände in seinen heiligen Gewürzbüchsen, an seinen Maschinen, seiner Ladenkasse, seinem gefliesten Schlachthaus, sah sie sein Firmenschild herunterholen, der knirschte die ganze Nacht. Oder warf sich herum, schlug um sich, brüllte: Hunde die, Verbrecher, Schädel ein; dann hielt Müller ihm die Füße fest, drückte ihn zu Boden, Peter sprang, stopfte ihm den Mund zu, Röcheln, wenn das mal anders kommt, Dertinger blieb teilnahmslos, aber man wußte nicht, ob der Wachtmeister in der Nähe war, ob dieser Kocialek echt war, der sich in seiner Ecke verkroch, das Schwein. Oder Dertinger. Schlief immer zuerst, wußten sie. Aber dann, wenn sie schliefen, kein Gefühl hatten für die Zeit, stand der auf, stand da, betete irgend etwas vor sich hin, lautlos, dennoch erwachten sie immer. Bis Hiller losschrie: Halt doch endlich die Fresse, Mensch. Da konnten Stunden vergangen sein. Da war immer schon Morgen.
Morgen.
Alles schon einmal erlebt. Die Geräusche der Stadt draußen, die Dämmerung. Langsam kriecht das Licht hoch, aber es befreit nicht: da ist keine Aussicht. Klirren der Zellenschlüssel, Schritt der Kaffeeholer, vergebliches Gleichmaß der Frühe. Ein Morgen wie jeder Morgen, aufstehen nur, weil es die Vorschrift will, es bleibt alles an seinem Ort. Draußen fehlen die Schritte der Leute, die zur Arbeit gehen, die ersten Straßenbahnen, die es nicht gibt in dieser Stadt, das Hin und Her der Shaping in Schmidtschlossers Werkstatt und das Vibrieren der Mauern von der Wäschemangel her im Erdgeschoß, als ob Sonntag wäre. Aber es ist nur die Distanz, das Gitter, der Stacheldraht. Jedes bleibt an seinem Ort und |528| verharrt in der Zeit, jeder verharrt in sich und verstummt, als sei nie gedacht worden: Der Mensch lebt, weil er sich nicht voraus sein kann, von morgen her wissen, was ihm bevorsteht – hier kann er’s, und lebt dennoch, lebt? Und wenn dies eine Einsicht wäre, Gewinn wird bezahlt mit Verlust, Neues mit Altem, Erkenntnis mit Desillusionierung? Nur die Grenzen sind wirklich, die Mauern, die verschlossenen Türen.
Nacht.
Etwas Licht ist immer. Das kommt von den Scheinwerfern, die das Gebäude anstrahlen von außen, auf daß den Posten nichts entgehe. Das ist ein Licht zur Verhinderung von etwas. Aber etwas kommt immer herein, und wenn es das ist, erkennbar die Schlafenden, die Wand, an der man liegt, vergilbter Mörtel. Und Inschriften, Namenszüge, Josef Kummer, 5. 4. 45 bis …, was ist aus dem geworden, R. L. 1947, und immer noch der gleiche Kalk, Mauern, die verharren in der Veränderung, und welcher Unterschied besteht zwischen R. L. und Josef Kummer, man wird es
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