Rummelplatz
so, drücken ein Auge zu, das weiß man. Die Posten stehen ferner auf der Mauer, genauer: in Holztürmen, die über den beiden Mauerecken errichtet sind, die Mauer ist vier Meter hoch, der Hof etwa dreißig lang und zwölf breit, ein Schacht. Die Posten unterhalten sich oder sie lehnen über der Brüstung, beobachten, manchmal sehen sie weg. Die Häftlinge, sechsundzwanzig Stück, gehen.
|522| Sie gehen in ihren Schuhen, aus denen die Schnürsenkel entfernt sind, der Besitz jeglicher Art von Schnur, Bindfaden, Schürsenkel oder etwa Seil ist verboten, immerhin aber gehen sie in ihren Schuhen, die zumeist aus Leder sind. Es gibt auch noch einen zweiten Hof hinter diesem, dort gehen die Strafgefangenen, die bereits Verurteilten, die gehen in Holzschuhen, das hört man, in Gefängniskleidung mit grünen oder gelben Streifen, sie dürfen sich unterhalten, sie gehen in Gruppen, manche haben eine Zigarette oder immerhin eine halbe, verurteilt zu sein ist ein Vorteil. Übrigens ist der Nachbarhof kleiner, die Hälfte etwa von diesem hier. Und die Freistunde dauert dort länger, dreißig Minuten genau. Und die Häftlinge wechseln häufig, hier sind sie nur vorläufig, warten auf den Abtransport in größere Strafvollzugsanstalten, dies der amtliche Terminus, oder in Haftarbeitslager.
Diese hier gehen in ihren eigenen Schuhen, ihren eigenen Kleidern, aus deren Taschen allerdings jeglicher Inhalt entfernt worden ist mit Ausnahme des Taschentuchs; verboten ist der Besitz von Geld, Papieren, Taschenmessern, Uhren, Feuerzeugen, Zündhölzern, Gürteln und Hosenträgern, Bleistiften, Füllfederhaltern und was der Mensch so bei sich hat. Was der Mensch so bei sich hat, heißt auch Effekten und ist deponiert in einer eigens dafür hergerichteten Kammer.
So gehen sie, zwanzig Minuten täglich, die übrigen dreiundzwanzig Stunden und vierzig Minuten befinden sie sich in Zellen, was das ist, weiß man in Deutschland und überhaupt in Europa und nahezu auf der ganzen Welt. Weniger weiß man Bescheid über die Höfe. Dieser hier hat einen schwarzen Schlackeboden mit eingelegtem Oval aus Betonplatten, die sind jeweils zehn Zentimeter voneinander entfernt, quadratisch, Seitenlänge sechzig Zentimeter. Er hat eine Mauer aus Ziegeln, kalkverputzt, aber stellenweise ist der Putz abgebröckelt, auf der Mauerkrone befindet sich ein nach innen überhängender Stacheldrahtzaun. Das Gebäude an der vierten Seite ist gebaut aus roten Backsteinen mit |523| grauem Zementputz darüber, die Fenster sind ungefähr quadratisch, siebzig mal sechzig, fünf Gitterstäbe senkrecht, zwei waagerecht. Da der Boden des Hofes aus Schlacke besteht, kann sich kein Gras halten, kein Unkraut, freilich auch kein Wasser nach Regengüssen. Über dem Geviert der Mauer ist ein Stück Himmel zu sehen. Ferner sind zu sehen jenseits der Mauer das Dach und die obere Etage des Gerichtsgebäudes, drei Scheinwerfer auf Freimasten, ein Stück Baum, auf dem Dach des Gerichtsgebäudes ist an staatlichen Feiertagen die Flagge der Deutschen Demokratischen Republik zu sehen. Von der linken Hofseite aus sieht man an klaren Tagen in der Ferne den Turm von der St.-Petri-Kirche, von der rechten die Antenne auf dem Dach des Polizeipräsidiums. Aber nach drei Tagen spätestens kennt jeder Häftling die Szenerie auswendig, auch der gedächtnisschwächste; wer länger hierbleibt, hat Aussicht, das Bild bis an sein Lebensende nicht zu vergessen.
Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, das sind, wenn man die Freistunde abzieht, eintausendvierhundertundzwanzig Minuten, geweckt wird sieben Uhr morgens, es gibt drei Mahlzeiten; morgens zwei, abends drei Scheiben Brot, Margarine oder Fett in den Ausdehnungen einer Streichholzschachtel, ein Löffel Zucker, mittags Nudelsuppe oder Graupen oder Dörrgemüse, sonntags Kartoffeln und Fleisch, jeden zweiten Abend ein bis zwei Scheiben Wurst; dem Untersuchungshäftling, wenn er sie bezahlen kann, stehen täglich drei Zigaretten zu, einmal monatlich darf er einen Brief schreiben, er hat Anspruch auf einen Schemel und eine Matratze mit zwei Wolldecken, da aber die Einmannzellen (3,9 x 2,7 Meter) mit drei beziehungsweise vier beziehungsweise fünf Häftlingen belegt sind, hat nicht jeder einen Schemel, und der Kübel, das ist in älteren Gefängnissen der Klosettersatz, ist meist besetzt; ferner steht dem Häftling alle zehn Tage ein Buch zur Lektüre zu, welches die Gefängnisbücherei kostenlos auf die Zellen liefert, in Zelle 127 waren das »Gedanken im
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