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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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geworden war, galt plötzlich der Fachmann nicht mehr, so sah er’s. Er starrte vor sich hin, auf das rostige Eisenblech, die schwitzenden Rohrleitungen draußen, die aufwärts rasten. Die ganze Schicht starrte er vor sich hin, selbst wenn er seine Scheiben abschoß, seine Strippen knüpfte, stumm, versteinert. Er starrte vor sich hin und schwieg.
    Plötzlich schwappte kaltes Wasser herein. Der Korb schlingerte. Das war jeden Tag dasselbe, jeder kannte die Stelle und fuhr dennoch zusammen, wenn sie über ihn kam. Gegen die Schalung schlug der Korb, ungleichmäßig schwang das Förderseil. Das Blut dröhnte in den Ohren, der Korb krachte |104| und ächzte, ein bodenloser Schlund verschlang das Gleichmaß, bis der Boden sich hob, fünf Sekunden lang oder vier: sie schlingerten ins Füllort.
    Und das Wasser prasselte aufs Blechdach, troff in den Sumpf, der Anschläger riß das Stangengitter hoch.
    Christian betrat die Hauptfördersohle. Der Schießmeister vor ihm. An einem Trupp Kumpel vorbei, der auf die Ausfahrt wartete. Das »Glück auf« erwiderte der Schießmeister nicht. Ging schnell, bog ab, verschwand, wie auf der Flucht. Christian ging mit den anderen. An endlosen Reihen massegefüllter Hunte vorbei, an zwei rangierenden Elektroloks. Die Hauptförderstrecke war erleuchtet.
    Sechs waren sie, dann fünf, bog links einer ab, bogen zwei links ab und rechts zwei, Christian ging allein. Bis ins vierte Revier waren es zwanzig Minuten Weg. Der Rhythmus der Arbeit stockte während des Schichtwechsels, die Grubenloks hielten in den Strecken, die Bohrhämmer standen still, die Kompressoren liefen gedrosselt. Nur der Luftstrom der einziehenden Wetter, der sich staute an den Wettertüren. Christian bog ab, im Querschlag war die Luft still und muffig. Und warm, nach der Kälte des Wettersogs. Der Boden war trocken, das Gleis herausgerissen und Bohlen gelegt.
    Der Rhythmus stockte.
    Stille in den Schlägen, Dunkelheit. Nur das Flüstern des Bergs, das Knistern der Türstöcke, splitterndes Holz unterm Gebirgsdruck. Herabrutschendes Gestein manchmal. Tropfendes Wasser. Ein Knacken in den Rohrleitungen. Christian ging allein.
    2.
    Sonst hatten sie immer am Werkzeug-Magazin aufeinander gewartet, Christian und sein Hauer, und der Hauer war immer zuerst dagewesen. Aber diesmal war niemand da. Auch der Magaziner nicht, die Bohlentür war verschlossen.
    |105| Christian setzte sich auf eine Erzkiste. Er stellte die Lampe ab, das Licht reichte bis zum Vorhängeschloß. Da er seine Schritte nicht mehr hörte, hörte er die Stille. Und er hörte die Schachtratten rascheln im Magazin, oder was das sonst war. Nach zehn Minuten hörte er Schritte. Er sah die Strecke hinab; dort, wo das Ausweichgleis in das Fahrgleis mündete, verschwamm alles in Dunkelheit. Wenn man lange hinsah, bewegte sie sich. Rote Kreise schwammen ineinander, grüne Pünktchen, seltsame geometrische Figuren. Sie blieben, auch wenn man die Augen schloß.
    Aber dann sah er das Licht. Er blieb sitzen, denn er sah gleich, daß es eine Mannschaftslampe war. Sie kam langsam näher, hüpfend und pendelnd, der Magaziner konnte das nicht sein, auch nicht der Hauer. Höchstens der Fördermann vom Nachbarblock, aber der dann auch nicht mehr, der ging anders. Die Schritte plitschten in der Wassersaige. Der Mann trug schwer. Er trug einen Kübel, und Christian sah nun: Es war der Saigenreiniger Fadenschein.
    »Na?« sagte Fadenschein. »Keiner da?«
    Er setzte den Kübel ab, leuchtete in die Runde. Gezähe lag umher, Holz, Erzkisten. »Das sieht ja wie bei Hempels aus«, sagte Fadenschein. Er setzte sich Christian gegenüber, zog die Gummistiefel aus, wickelte die Fußlappen neu. Dann holte er Tabak aus einer Blechschachtel und Papier, er begann zu drehen. Feuer schlug er aus einem faustgroßen Aluminium-Feuerzeug. Christian sah ihm zu.
    Fadenschein. Es hieß, er sei Sänger gewesen an der Breslauer Oper. Die Polen hätten ihn ausgewiesen, seine Frau vergewaltigt, die sei daraufhin dortgeblieben. Andere wollten wissen, er habe ein Konservatorium geleitet oder sonst was Künstlerisches, er sah auch so aus. Und die Russen hätten dort ihre Kommandantur eingerichtet und die Klaviere verheizt, ihr wißt ja, fünfundvierzig, dieser strenge Winter. Draufhin sei er zur Wismut gegangen, aus Protest. Der Radiometrist aber wußte: der Mann ist ausgebombter Schneidermeister aus |106| Leipzig; drei Kriegsjahre lang war er Aushilfstenor im Leipziger Opernchor. Die Alte ist ihm durchgebrannt,

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