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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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aufhängen, da kannst du sehen, wo du bleibst! Laß dir nur so ein Balg aufhängen! Schämen würd ich mich, pfui Teufel! Ausspucken würd ich! Sag’s ihm nur, von der Tripperburg, daß sie dich dortbehalten haben, damit er gleich weiß, was er an dir hat! Aber das sag ich dir: Windelweich würde ich dich prügeln, wenn ich aufkönnte! Wenn ich mich nicht totgerackert hätte für euch: Die Larve würde ich dir grün und blau hauen, daß dich keiner mehr ansieht!«
    Peter Loose stand am Fenster, er rührte sich nicht, er war wie angenagelt. Er hörte die Stimme zusammenstürzen und verröcheln in einem Hustenanfall; im Oberstock klopfte jemand laut auf den Fußboden; er hatte so etwas noch nie erlebt. Er starrte auf die Straße hinaus; ihm war, als müsse er nun endlich aufwachen.
    Ingrid sagte leise: »Was soll ich denn machen? Als ich siebzehn war, hatten wir einen Untermieter von der Wismut. Ich mußte immer bei ihm saubermachen. Da passierte es eben. Er nahm mich einfach mit Gewalt, und ich konnte überhaupt |96| nichts machen. Später ist er nach dem Westen gegangen. Krank war ich nie. Das redet sie sich alles ein. Sie haben mich mal bei einer Razzia mitgenommen, auf dem Bahnhof, und ich mußte die Nacht im Krankenhaus bleiben, bis alle untersucht waren. Wenn man wirklich krank ist, da behalten sie einen doch nicht bloß eine Nacht. Das redet sie sich alles ein. Was soll ich denn machen? Ich kann doch nichts dafür, daß sie so geworden ist.«
    Sie stand neben ihm, an die Wand gelehnt; er legte den Arm um ihre Schultern. Er war elend und hilflos. Er dachte: Natürlich, sie ist alt und sie ist krank – aber er konnte sich diesen Haß dennoch nicht erklären. Bei allem, was gewesen war, wußte er: Seine Mutter hätte so etwas nie über sich gebracht, nicht einmal sein Stiefvater; er hätte gleich sonst etwas anstellen können. Er hatte gedacht, daß er ganz unten wäre, und nun sah er: Es gab welche, die steckten noch viel tiefer drin. Er sah, daß es noch viel weiter runter ging und daß es vielleicht nirgends ein Ende gab. Er hielt Ingrid ganz fest, und er hielt sich an ihr fest, er strich ihr übers Haar, und dann küßte er sie. Da umarmte sie ihn mit einer Rückhaltlosigkeit, die ihm den Atem benahm.
    Später lagen sie lange nebeneinander, er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, sie legte den Kopf auf seine Brust, sie atmete ruhig. Sie sagte leise: »Man müßte alles ganz anders machen.« Sie dachte: Man müßte heraus hier, irgendwohin, wo uns keiner kennt. Aber sie wußte schon, daß sie nicht fortgehen konnte. Es war keiner da außer ihr, der sich um die Mutter kümmern konnte. Sie sagte es ihm, und dann schlief sie ein an seiner Schulter; sie war nun ganz ruhig.
    Aber Peter Loose konnte nicht schlafen. Fortgehen, dachte er. Er war immer fortgegangen. Aber war er denn angekommen irgendwo? Ein anderer Ort und andere Straßen und andere Gesichter, aber es blieb immer das gleiche, das wußte er doch. Nur die Namen waren anders, sonst nichts. Er sah das Licht von der Straße auf Ingrids Haar, und er dachte: Das |97| also ist es, was mit ihr ist. Nein, dachte er, fortgehn, das geht wirklich nicht. Nur unterwegs sein, das gab es wirklich. Man mußte wissen, daß man von nirgends fortging und nirgendwo ankam, soviel man auch ging. Unterwegs sein, das war alles.
    Er war müde, aber er schlief noch immer nicht, und er sah nun alles ganz deutlich. Das war oft so vor dem Einschlafen: eine Klarheit, die alles durchsichtig macht und erkennbar, und alles hinübernimmt in dies andere. Jahrmarkt, dachte er, das bißchen Freundlichkeit und Wärme, und die anderen, ohne die man nicht sein kann. Talmi, Pappmaché, Rummelplatz – immer im Kreise. Du steigst in die Schaukel und schwingst dich hoch über den toten Punkt, aber du kommst immer wieder herunter, und es ist alles so, wie es vorher war. Das ist dann alles. Er wollte nicht, daß es alles war, aber er wußte nichts anderes. Dann war nur noch der Atem neben ihm, er dachte noch: Ich will und es muß und es wird; dann dachte er nichts mehr. Und das Licht schaukelte weiter die ganze Nacht.

|99| II. TEIL
DIE FREIHEIT DER GEFANGENEN

|101| V. Kapitel
    Der Berg atmet. Kalte Luft stürzt in den Förderschacht. Unten die ein- und ausziehenden Wetter, der Organismus von Hauptstrecken und Querschlägen und Blindschächten, der funktioniert. Aber ein Atem, als ob einer eiserne Lungen gebaut hätte, ein ganzes Gebirge zu lüften. Und oben die Halden, die Fördertürme, Natur

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