Rund wie die Erde
jeden Fremden unerträglich ist.
Die Bewohner dieser wüsten Tafel müssen ihre leise, örtlich betäubte Scham mit viel Wein wegspülen, manchmal singen sie trotzig oder erzählen einander blöde Geschichten. Es ist doch klar, daà all dies nur mit wirklich guten, verläÃlichen und erprobten Freundinnen und Freunden durchge
standen werden kann. Auch das Schweigen am Tag danach, das doppeltkohlensaure Natron und die stummen Gelübde, die BuÃfertigkeit und die innere Einkehr gehören dazu. Am Tag nach solchen Exzessen wird geschwiegen, am nächsten Tag mit den anderen telefoniert. Einen Monat später überlegt man sich den nächsten Termin, wohl wissend, daà jenes einst unschuldigste aller Vergnügen im Lauf der wohlhabender gewordenen Zeiten ganz schlechte gesellschaftliche Karten hat. Das ungehemmte Fressen gilt als ordinär, zuchtlos, unanständig, abstoÃend â ach. Wir finden das ja alle selber und sind dankbar wie die Kinder, wenn wenigstens die Literatur uns die Tische überlädt, wir lassen uns von Grass unbekömmliche Speisen servieren und lesen uns an der legendären jütländischen Kaffeetafel von Siegfried Lenz satt und voll. Auch im Kino bekommen wir die Völlerei von Zeit zu Zeit erlaubt, es ist nicht zu klären, ob die Wörter, die den Duft nach Gebackenem, Geräuchertem und Speckigem auszuströmen in der Lage sind, den inneren unstillbaren Hunger nachhaltiger besänftigen als die Filmbilder, farbig und duftlos. Ich gebe natürlich der Literatur den Vorzug, denn die Kinobraten sind aus Plastik, man sieht es doch irgendwie, statt Fett läuft den Stars Glyzerin über die Backen, das Obst ist so trügerisch wie die Torten. Nur den Wörtern ist zu trauen, wenn schon auf die realen Schüsseln verzichtet werden muÃ.
Worin besteht das Vergnügen am Junk food, das ja sogar Modeschöpfer, Ballettänzer und Dreisterneköche nicht leugnen? Es liegt auf der Hand: Junk food ist das Zitat des GroÃen Essens, ein Pars pro toto, eine unauffällige Erinnerung an Schlachtfeste und Leichenschmäuse. Niemand würde es wagen, in einem normalen bürgerlichen Restaurant nach zweierlei fetten Saucen zu verlangen, die dann groÃzügig auf dem
Kotelett oder dem Putenschnitzel verteilt werden. An der ImbiÃbude stört das keinen, weià und rot, bitte, und noch einen ordentlichen Schlag auf die Rindswurst.
Bei den Würsten landen wir immer, wenn wir uns sehnsüchtig an ein Früher zu erinnern suchen, wo die Kargheit und der Ãberfluà noch beide auf der Lebensschaukel saÃen. Die Würste sind übriggeblieben von Schlachtzeit und Erntedank, aber das ihnen innewohnende Gruseln heiÃt heute Sorbinsäure, Lebensmittelgesetz und Cholesterin. Oder? Die Schnelligkeit, mit der man sie verschluckt, kann schlechtes Gewissen ebenso bedeuten wie Kindergier.
Mittags im Frankfurter Osten stehen lange Schlangen vor der allerbesten Wurstküche der Region â was sage ich, Europas! Ein warmer, heimatlicher und gar nicht barbarischer Duft dringt aus dem überfüllten Laden, zwischen feinen und groben Fingern steckt die saftige, rote Rindswurst und tröstet Hoch und Niedrig. Hoch über die Langeweile und Niedrig über die Arbeit.
De Gaulle hat einmal kokett darüber gejammert, daà ein Land mit so vielen Käsesorten eigentlich unregierbar sei. Wer sich an den General erinnert, hatte zwar eher das Gefühl, er habe sich für den Erfinder jeder einzelnen französischen Käsesorte gehalten, aber wie auch immer: Was ist denn mit unseren Tausenden von Wurstsorten?
Unzählige Würste, als Zitat für Völlerei, als wohlfeile und fast folgenlose Möglichkeit, sie zu simulieren, bleiben sowieso. Die dünnen, zweimal geknickten Thüringer, weihnachtsmarktduftend, ein allzeit verfügbarer Trost über die deutsche Einheit, die Frankfurter, die dicken Regensburger Knubbel, all die scharfen Dinger aus dem Osten, paprikarot und tückisch. Blut und Leber und alles Innere und Schreckliche wird
wundersam verwandelt, die Leber zum Schluà nur noch eine Ahnung, eine Erinnerung und die sanfte, graue Farbe, von der kein Mensch weiÃ, wie sie entsteht.
Grass füllt einen Hammelkopf mit Würsten, das geht natürlich ein biÃchen weit, aber die Vogelsberger Kartoffelwurst beweist, daà es stimmt: Wurst dürfen auch Vegetarier essen. Sie hat mit Mord nichts mehr
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