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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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dass er sich fragte, ob er vielleicht träumte, ob er etwa gefangen genommen worden oder auf der Galeere ertrunken war, so dass alles, was er durchlebte, nur ein verwirrtes Delirium war.
    Sie stiegen aufs Neue in eine Schlucht hinab, in der hohe Pflanzen mit weißlichen Blättern den Himmel vor ihnen verbargen, und ließen sich - wieder einmal, ohne sich abzusprechen - auf den Boden fallen, um zu schlafen.
    Auf dem Boden waren die toten Blätter nicht mehr weiß, ihre Konturen undeutlich im nächtlichen Dunkel. Ein bittersüßer Geruch ging von ihnen aus. Arekh spürte, dass ihm die Augen zufielen. Er zwang sich, die Hand tastend in den Beutel, den er dem Schäfer abgekauft hatte, zu schieben und das Erstbeste zu packen, was er fand. Trockenfrüchte inmitten zerbröckelter Fladen.
    Er kaute, während er schon spürte, wie sein Geist abschweifte, in Albträume oder in Wahnsinn. Sie hätten
eine Wache aufstellen sollen, aber dazu waren sie nicht mehr fähig, und selbst, wenn einer von ihnen bemerkt hätte, dass die Soldaten sich näherten - was hätten sie schon tun können?
    Das war Schicksal. Im Laufe der Nacht würden die Soldaten sie aufspüren - oder nicht. Am Morgen würden sie im Laub aufwachen, oder nie mehr, oder in einem Kerker, und er konnte nichts dagegen tun, nur schlafen.
     
    Die Sonne vergoldete die Baumstämme, als Arekh die Augen aufschlug. Der Junge war nirgends zu sehen, aber er kam einige Minuten später zurück, die Hemdschöße voller frisch gepflückter Beeren. Die Hofdame, die Wasser gefunden hatte - vielleicht setzte der Fluss seinen Lauf im Wald fort -, wusch Marikanis Armwunden aus. Die Szene wirkte so ruhig und friedlich, dass es schwer war, sich vorzustellen, dass im selben Moment Soldaten den Wald durchkämmen mussten. Einige Meilen entfernt - oder nur einige Meter? Arekh schloss die Augen und lauschte. Der Gesang der Wälder schien ungestört. Die Vögel, die Waldtiere und der Wind in den Zweigen spielten ihre gewohnte Melodie, die der Waldnymphen, der Töchter Ontilants - des Halbgottes, der über die Winde gebot - und der launischen Nichte eines längst verstorbenen Kaisers.
    Arekh zwang sich aufzustehen, öffnete den Beutel und verteilte die Fladen, während er die Krümel auf einem der weißen Blätter sammelte, die sie in der Nacht beschützt hatten. Der Schinken, die Früchte und das altbackene Brot würden sich länger halten und ihnen später noch nützen.
    Sie wanderten weiter, immer tiefer ins Herz des Waldes, auf die Berge zu, als wüssten sie, dass dies ihre einzige Chance war. Sie drangen nach Westen vor, obwohl Harabec im Süden lag. Sie mussten ihr Heil fern der Zivilisation
suchen, fern der Landstraßen, der lichteren Wälder und der Männer des Emirs, die sicher schon auf sie lauerten.
    An jenem Abend aßen sie wenig. Marikani und ihre Hofdame rieben sich ihre Wunden mit Flachsrinde ein, bevor sie einschliefen. Manche Rinden wurden von den Heilern genutzt, und auch Arekh hatte sich ihrer schon bedient.
    Es handelte sich nicht um Hexerei … zumindest diesmal nicht. Dennoch floss in Marikanis Adern Magie, wie in denen sämtlicher Erben der Königsdynastie von Harabec. Aber wie alle göttlichen Gaben war diese hier nicht einfach zu handhaben. Nur in Legenden gab es Träger des dunklen Blutes, die Wunden einfach heilten, indem sie sie berührten, und Milch und Silber in Flüssen strömen lassen konnten. In Wirklichkeit erforderte Magie lange, komplexe Rituale an gesegneten Orten, an denen der Kontakt zwischen der Gottheit und ihren fernen Nachfahren sich bevorzugt abspielte.
    Die Könige trugen aber noch für weit mehr die Verantwortung. Das Königreich Harabec war aus göttlichem Willen geboren und lebte von der Magie seiner Herrscher. Wenn der König mächtig war und das dunkle Blut seiner Ahnen kräftig in ihm floss, war auch das Königreich stark, seine Einwohner vom Glück begünstigt; wenn der König schwach war, wurden die Ernten schlecht, und Kriege endeten rasch in Niederlagen.
    So zeigten sich göttlicher Segen und Fluch. Das Schicksal des Volkes und das seines Herrschers waren aufs Engste miteinander verbunden.
    Am folgenden Morgen beobachtete Arekh Marikani dabei, wie sie ihre Kleider richtete. Die Silhouette der jungen Frau war zerbrechlich; sie hatte schmale Hände. Es war kaum zu glauben, dass sich in ihr ein Königreich und
der Abglanz der fernen Macht ihres Vorfahren, des Gottes, spiegelten.
    Arekh kannte Harabec nicht gut; er musste in seinen Erinnerungen

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