Rune der Knechtschaft
graben, was die Ratsherren von Reynes über die Regentschaft der jungen Frau gesagt hatten. Der Handel mit Öl … und Salz … Salz, ja. Der Verlauf der Salzstraße war zwischen den Ratsherren der Fürstentümer oft diskutiert worden, ohne konkretes Ergebnis, aber Harabec war mehrfach in diesen Gesprächen aufgetaucht.
Die politische Macht Harabecs wuchs langsam, aber stetig, wie es hieß. Die dortigen Kaufleute handelten mittlerweile in allen Häfen der Freien Städte mit Öl und Wein, und die Landesgrenzen hatten sich nach Westen ausgedehnt. All das war geschehen, seit Marikani die Zügel in die Hand genommen hatte.
Und wenn Arekh sich nicht irrte, war die junge Frau noch nicht einmal volljährig. Sie konnte erst mit vierundzwanzig Jahren die göttliche Salbung und damit den Segen ihres Ahnen, des Gottes Arrethas, empfangen. Marikani würde dann nicht mehr Erbin, sondern Königin sein. Zu ihrer Macht würde die des wohlwollenden Blickes des Gottes hinzukommen, und ihre Feinde würden erzittern … So drückten es zumindest die kriegerischen Gesänge aus Harabec aus.
Sie waren nicht weniger anmaßend und gewalttätig als die des Emirats oder der Fürstentümer. Die Königreiche waren eine blutrünstige Gegend: Jedes Dorf, das auch nur über zwei Männer verfügte, die alt genug waren, eine Sense zu schwingen, hatte eine Hymne, die von der Tapferkeit und Wildheit seiner Krieger erzählte.
Am Nachmittag fiel der Boden, der zu steigen begonnen hatte, abrupt ab, um einen eisigen Strom zu enthüllen, der von den Gipfeln des Nordens herabkam. Es war nicht
schwer, ihn zu überqueren, und sobald sie am anderen Ufer waren, fühlte Arekh sich sicherer. Dieses Gefühl war alles andere als logisch, aber dennoch erschien es ihm, als hätten sie mit dem Fluss auch eine Grenze überquert und seien in ein anderes Gebiet gelangt, das der Gipfel, fern von den Blicken und der Wachsamkeit der Menschen. Von Hügel zu Hügel kletterten sie weiter hinauf; der Boden war hier rötlicher, die Bäume seltener. Sie wuchsen in kleinen Wäldchen um gewaltige Kiefern herum.
Auch unter seinen Begleitern hatte sich eine gewisse Entspannung breitgemacht. Die Schritte der beiden Frauen waren leichter geworden; der Jugendliche schnupperte manchmal an der duftenden Luft, als nehme er sich die Zeit, die Landschaft zu genießen.
Sie waren nun schon drei Tage zusammen unterwegs und hatten doch keine zehn Sätze gewechselt, wenn man das kurze Gespräch am Strand nicht mitzählte.
Umso besser , dachte Arekh. Er hatte keine Lust, nähere Bekanntschaft mit den anderen zu schließen. Ein seltsames Schicksal hatte sie für einen Moment zusammengeführt, aber ganz gleich, wie wichtig Marikani war, es würde zu gefährlich sein, länger in ihrer Gesellschaft zu bleiben.
Sie hatten ganz einfach nichts miteinander zu tun.
Sobald wir die Berge erreicht haben, werde ich die anderen allein nach Süden gehen lassen. Ich werde stattdessen einen Pass überqueren, um in die Grauen Lande zu fliehen.
Das Klima dort war regnerisch, und das Hauptnahrungsmittel war getrockneter Fisch, aber man würde ihn dort in Ruhe lassen - und das war alles, was er im Augenblick wollte.
Nein, er hatte überhaupt keine Lust zu reden. Doch der Wald war einladend und licht; die Sonne spielte auf den Kiefernnadeln und tauchte die Wege bald in grünliches,
bald in bläuliches Licht. Abgefallenes Laub und ein seltsames, golden schimmerndes Moos verschluckten den Klang ihrer Schritte.
Arekhs Herz zog sich zusammen. Wie alle Kinder hatte er einst im Wald gespielt; wie alle anderen hatte er die durchscheinenden Blätter betrachtet und den feuchten Duft des Mooses eingesogen; wie alle anderen hatte er sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn er nicht nach Hause zurückkehrte.
Wenn er einfach geradeaus weiterging, tief in den Wald hinein, zwischen den schwarzen Baumstämmen hindurch, ins Unbekannte.
In den Tod.
Vielleicht war es das, was alle Kinder suchten, ohne es zu wissen. Sie glaubten, von Abenteuern zu träumen, und sehnten sich doch nur nach dem Tod.
Arekh warf einen Blick auf die anderen. Der Junge und Marikani schritten voran, den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht über die grauen Felsen zu stolpern, die aus dem Hang hervorragten. Nur die Hofdame bewunderte die Landschaft ringsum; auf ihrem Gesicht lag ein seltsames Staunen, wie ein Hauch von Kindheit. Einen Moment lang war Arekh gerührt; dann begegneten sich ihre Blicke. Die Augen der Hofdame waren graugrün.
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