Rune der Knechtschaft
abgenutzt. Alles sprach dafür, dass es sich um einen alten, sehr alten Ort handelte. Die Blicke der Tiere sahen durch sie hindurch, ohne sie zu bemerken, als seien sie nur auf eine Vergangenheit gerichtet, die längst vergessen war.
Ja, dies war ein Ort des Vergessens. Ein Ort, an dem die Zeit langsamer verlief, und so verbrachten sie vielleicht eine Ewigkeit damit, stumm unter den Skulpturen umherzuwandeln oder einfach schweigend die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.
Stück für Stück bewölkte sich der Himmel oberhalb des Schachts. Ein leichter Schneeregen begann zu fallen, schmolz auf dem Höhlenboden und begann sich dann in den kleinen, zu diesem Zweck gedachten Rillen zu sammeln und in einen Korridor zu fließen, wo er sich in einer natürlichen Felsspalte verlor.
»Unglaublich«, sagte Marikani schließlich, als sie es sich ein wenig später auf einem der großen Steinaltäre bequem gemacht hatten, um gemeinsam zu essen. »Besonders die Basreliefs. Sie haben überhaupt nichts mit der Architektur des Emirats gemein.«
Lionor machte eine Bewegung. »Der Stein ist aber auch nicht der gleiche wie im Kaiserreich - auch der Stil nicht. Die Historiker haben keine einzige figürliche Statue in den Ruinen des Kaiserreichs gefunden …«
Arekh hörte zu, wie sie über Architektur und Kunst diskutierten, während sie Brot und Dörrfleisch miteinander
teilten. Mîn schwieg; er hatte dem Gespräch nichts hinzuzufügen und wirkte leidend. Der Junge war bleich und aß kaum.
Ohne sich abzusprechen, legten sie sich schlafen. Sogar Arekh fühlte sich friedlich, geborgen. Vielleicht war das nicht nur ein Eindruck - wer weiß? Wenn es sich um einen Tempel handelte, der einem vergessenen Gott geweiht war, vermochte seine fast verschwundene Macht sie vielleicht hier, an diesem Ort des Gebets, noch zu schützen.
Die Nacht senkte sich herab; die Sonne ging über ihren Köpfen unter und ließ goldene und violette Lichter erzittern, die neue Ausdrücke in den Basreliefs enthüllten. Arekh streckte sich auf einem Altar aus und ließ den Blick über die stummen Zeugen einer verlorenen Zivilisation schweifen. »Stumm« war vielleicht nicht das richtige Wort - diese Gesichter schrien und sangen. Sie sangen noch in seinem Schlaf und trugen ihn bis in die ersten Strahlen der Morgensonne.
»Mîn geht es schlecht«, erklärte Lionor über den Jugendlichen gebeugt.
Der Junge hatte hohes Fieber und zitterte. Seine Wunde eiterte; er antwortete kaum auf Fragen, die man ihm stellte.
Er wird nicht lange überleben , dachte Arekh. Er spürte nichts, keinerlei Mitgefühl. Und dennoch war er getaucht, um dieses Kind zu retten, hatte mit eigener Hand seine Fesseln durchschnitten. Er wäre schneller gestorben, wenn er ertrunken wäre, und hätte weniger gelitten.
Marikani hatte eine Torheit begangen, als sie Mîn hatte retten wollen - eine Torheit, die auch Arekh angesteckt hatte und deren verdorbene Früchte er nun erntete, verfault wie krankes Fleisch.
»Mîn ist noch nicht tot«, sagte Marikani trocken, als
Arekh ihr nicht sonderlich diplomatisch seine Überlegungen mitteilte.
»Das wird er bald sein. Wir können die Entzündung nicht behandeln.«
»Das würde Euch so passen, nicht wahr?«, zischte sie plötzlich. »Ihr wünscht Euch, dass er stirbt, nur um Eure verdrehten Ansichten über das Leben bestätigt zu finden!«
Arekh starrte sie mit offenem Mund an - unter anderem, weil Marikani nicht völlig unrecht hatte. Er wünschte sich natürlich, dass Mîn überlebte, er hatte keinen Grund, ihm etwas Böses zu wollen, aber es hatte ihm ein finsteres Vergnügen bereitet, sich die Wirkung auszumalen, die der Tod des Jugendlichen auf die ärgerlichen Überzeugungen der jungen Frau haben würde.
Arekh schwieg einige Sekunden; das reichte aus, um Marikani zu beweisen, dass sie richtig vermutet hatte. Sie wandte sich erzürnt ab und ging zu Mîn hinüber, der ihren Arm ergriff.
»Priester können heilen, Aya Marikani«, sagte der Junge mit heiserer Stimme. »Ihr … Arekh hat gesagt, Ihr wärt eine Zauberin. Aus der Dynastie der Magierkönige … Ihr könnt das Fieber senken …«
Marikanis Stimme brach, als sie antwortete. »Ganz so ist das nicht. Ich bin keine Priesterin, Mîn. Mein Leben ist mit dem meines Königreichs verbunden und meine Macht mit dem Schicksal Harabecs, weil … Das ist kompliziert. Aber die Rituale, die ich vollziehe, haben nichts mit …«
Doch die Hand des Jugendlichen packte Marikanis Arm nur noch
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