Rune der Knechtschaft
fester. »Das ist Magie! Ihr könnt es versuchen! Ihr könnt die Magie der Götter nehmen und sie in meinen Körper leiten, um mich zu heilen.«
»Ich …«
Lionor unterbrach sie: »Die Hexenhunde spüren göttliche
Veränderungen, Mîn, und ihre Herren ebenfalls. Wenn in diesen Tunneln auch nur ein einziger Zauber gewirkt wird, wird sich die Meute auf uns werfen, als hätten wir laut geschrien.«
Marikani öffnete den Mund, sah Lionor an und schwieg dann. Irgendetwas ging zwischen den beiden Frauen vor: Es folgte ein bedeutungsschwangerer Blickwechsel. Arekh hatte nicht gewusst, dass die Hunde auf magische Aktivitäten reagieren konnten, aber eigentlich erschien das nur logisch.
War Marikani etwa böse auf ihre Hofdame, weil diese die Wahrheit gesagt hatte? Weil sie Mîn hatte spüren lassen, dass sie - wenn sie vor der Wahl standen, ihr Leben oder seines zu retten - ihn lieber seinem Todeskampf überlassen würden, als das Risiko zu vervielfachen?
Marikani wandte sich wieder dem Verwundeten zu. Tränen standen in ihren Augen, als sie den Jungen zum Aufstehen zu bewegen versuchte.
»Du bist noch nicht tot, Mîn«, wiederholte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Du bist kräftig und mutig, du brauchst keinen Zauber, um durchzuhalten. Los, gehen wir!«
Mîn klammerte sich an ihren Arm und machte einige Schritte, bevor er sich außer Atem auf einem anderen Altar niederließ.
Übergangslos verkündete Lionor: »Vielleicht haben die Löwenköpfe etwas zu bedeuten.«
Ihre Stimme war kühl und beherrscht, schneidend im Vergleich zu der Gefühlsbewegung ihrer Herrin. Arekh und Marikani sahen Lionor verständnislos an.
»Die Löwen?«, wiederholte Arekh und fragte sich einen kurzen Moment lang, ob Lionor vielleicht den Verstand verloren hatte.
Das wäre ja hervorragend gewesen! In den Tunneln einen Sterbenden und eine Wahnsinnige dabeizuhaben …
Lionor warf ihm einen eisigen Blick zu, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Arekh sagte sich zum hundertsten Mal auf dieser Reise, wie sehr er die kalten, bläulichen Augen der Hofdame hasste. Die alte Legende hatte vielleicht einen wahren Hintergrund. Blau in den Iriden einer freien Frau konnte einfach nur auf Böses hindeuten. Da waren Arekh ja noch Marikani und ihre unvernünftigen Reaktionen lieber …
Wie konnte eine derart leidenschaftliche Frau wie Marikani nur so vernarrt in eine Hofdame sein, die kalt wie ein Reptil war?
»Ja, die Löwen «, wiederholte Lionor langsam und fixierte Arekh. Er hatte den Eindruck, dass dieser einfache Austausch eine Kriegserklärung gewesen war.
Sie hatten sich gerade ihre gegenseitige Abneigung eingestanden.
Marikani hatte nichts bemerkt. Sie hatte sich einem der Eingänge genähert und musterte die Löwen.
»Fünf Gänge führen in dieser Höhle«, sagte Lionor, während sie neben Marikani trat und Arekh ignorierte. »Aber nur vier sind mit einem Torbogen und einem Löwenkopf geschmückt. Und der Ausdruck des Löwen ist jeweils unterschiedlich … Siehst du?«
»Glaubst du, dass sie für die vier Himmelsrichtungen stehen?«, fragte Marikani und blickte sich um, so dass sie die Gesichtsausdrücke miteinander vergleichen konnte. »Das wäre wohl zu einfach.«
»Warum zu einfach? Wenn Leute hier, in diesem Labyrinth, gelebt haben, mussten sie sich doch auch orientieren, meinst du nicht? Wenn …«
Und plötzlich hielt Lionor inne. Die beiden Frauen
erstarrten, und Arekh zuckte zusammen. Sogar Mîn hob den Kopf. Trotz seiner Erschöpfung und seiner Schmerzen hatte auch er es gehört.
Das Bellen.
Marikani und Lionor liefen zu Mîn und halfen ihm aufzustehen. Im mittlerweile fahlen Morgenlicht war der schützende Einfluss des Ortes verflogen, als hätte er nie existiert.
»Wenn wir uns nicht irren, muss das Maul des brüllenden Löwen dem Süden entsprechen«, sagte Lionor rasch.
Arekh nickte. Sie hatte vielleicht recht. Vielleicht . Wenn die Wesen, die hier einst gelebt hatten, so gedacht hatten wie sie selbst, wenn sie die Himmelsrichtungen gekannt hatten … Wenn . Es war nicht der rechte Augenblick, um zu diskutieren.
Sie gingen durch den Torbogen, ohne zu rennen, nur mit etwas beschleunigtem Schritt. Bald genug würden sie wirklich rennen, dachte Arekh und sah zu, wie die beiden Frauen Mîn stützten. Sie wussten alle, was dieses Bellen zu bedeuten hatte.
Im Gehen überlegte Arekh, ob sie vielleicht in der großen Höhle hätten bleiben und sich dort verbarrikadieren sollen. Nein … Er hätte besser daran
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