Rune der Knechtschaft
Süden.« Sie deutete auf den Gang, durch den das Liebespaar geflohen war. »Sie sind genau in die Gegenrichtung gelaufen. Wenn wir davon ausgehen, dass sie zu ihrem Stamm zurückgekehrt sind …«
Arekh seufzte. Er konnte nur hoffen, dass Marikani recht hatte. Im Freien hätten sie sich an den Sternen, den Monden und dem Moos an den Bäumen orientieren können. Hier gab es keine Anhaltspunkte.
»Es ist seltsam mild«, fügte Marikani hinzu. »Habt Ihr das bemerkt?«
Nein, das hatte Arekh nicht bemerkt. Aber es stimmte. Obwohl sie vor dem Wind geschützt waren, hätte die Luft hier eisig sein sollen. Doch das war nicht der Fall, und er erkannte keinen Grund dafür. Keine heiße Quelle - und auch keine bekannte vulkanische Aktivität in dieser Gegend.
Nur Kiefern, Schnee, Felsen und Wind.
Und Hunde.
Ein Schauer durchlief Arekh; er reckte sich und lauschte, konzentrierte sich auf die Geräusche. Nichts. Nur das Plätschern des Wasserfalls, das Rascheln von Lionors Kleidern, da sie immer noch damit beschäftigt war, sich flüchtig zu waschen, und der raue Atem des Jungen, der noch schlief. Mîn wimmerte und wälzte sich im Schlaf.
Nein, da war wirklich nichts. Aber Arekh hatte gelernt, seinen Vorahnungen zu vertrauen.
»Wir müssen weiter«, sagte er schlicht.
Marikani nickte und ging, um Mîn zu wecken.
Mîns Wunde hatte sich entzündet. Der Jugendliche glühte vor Fieber, was ihre Wanderung verlangsamte. Lionor stützte ihn, während Marikani neben Arekh ging. Eine neue Ordnung der Dinge, die seit ihrer Ankunft in den Tunneln andauerte. Im Wald waren die beiden Frauen einander nicht von der Seite gewichen und meist Arekh und Mîn gefolgt. Die Männer getrennt von den Frauen.
Jetzt nicht mehr.
Jetzt gingen Arekh und Marikani voran, gefolgt von Mîn und Lionor.
Arekh fragte sich, was zu dieser Veränderung geführt hatte. Wollte Marikani ihn im Auge behalten? Leichter mit ihm über Entscheidungen verhandeln können? Arekh wusste es nicht und war sich auch nicht sicher, ob die Situation ihm gefiel. Manchmal reichte schon die Gegenwart der jungen Frau aus, ihn zu verärgern.
»Ihr habt mir gesagt, dass Harabec unter Eurem Tod nicht zu leiden hätte«, verkündete er frei von der Leber weg, als sie gerade eine Treppenflucht hinaufstiegen. »Das kommt mir naiv vor. Der Tod eines Herrschers gilt immer als schlechtes Vorzeichen, besonders, wenn dieser Herrscher in Feindesland getötet wird. Natürlich würde Euch ein anderer König nachfolgen, aber der Emir hätte zumindest einen symbolischen Sieg errungen.«
Marikani starrte ihn an; in ihren Augen lag ein ungläubiges Leuchten. »Bei den Abgründen! Wollt Ihr Euch unbedingt darauf versteifen, über Politik zu reden?« Sie deutete mit ausladender Bewegung auf die Höhlen ringsum. »Ist Euch bewusst, wo wir uns befinden? Was wir heute entdecken? Meilen um Meilen eines jahrtausendealten Felslabyrinths. Dieser Ort reicht weit über uns hinaus, Arekh. Er geht über Eure Probleme, meine Probleme, die Harabecs und die des Emirats hinaus. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie viele Arbeiter zwischen diesen Wänden geschuftet haben? Für wie lange Zeit? Zu welchem Zweck?«
»Um die Adern weißen Steins auszubeuten. Sucht nicht nach anderen Gründen, Aya Marikani. Die menschliche Gier war schon damals am Werk. Tausende von Sklaven sind gestorben, während sie Gänge in den Fels getrieben haben, um ein paar Kilo leuchtenden Steins abzubauen. Es gibt nichts Staunenswertes hier.«
»Sklaven? Im Alten Kaiserreich gab es keine Sklaverei!«
»Das Türkisvolk war vielleicht noch nicht hier, aber wer sagt Euch, dass es keine Sklaven gab? Kriegsgefangene, Sträflinge … Wesen mit freier Seele, aufs Äußerste erniedrigt. Vielleicht haben die Götter auf ihre Bittgebete hin beschlossen, uns wahre Sklaven zu schicken - die verfluchten Geschöpfe vom Türkisvolk, auf dass nie ein weiterer frei geborener Mensch derart gedemütigt werde …«
Nach dem Rat, der aus den Mitgliedern des Türkisvolks Sklaven nach göttlichem Gesetz gemacht hatte, war ein Edikt erlassen worden, das es den freien Menschen untersagte, andere freie Menschen zu versklaven. Dieser Stand war den hellhäutigen, blauäugigen Verdammten mit dem Schandmal auf dem Schulterblatt vorbehalten.
»Ihr habt in Fesseln eine Galeere gerudert«, sagte Marikani in eisigem Tonfall.
Hinter ihnen hatte Lionor, die mit Mîn gesprochen hatte, sich selbst unterbrochen. Sie lauschte, davon war Arekh überzeugt. Als ob dieses
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